Magnetissimus Elektro / Flankensteilheit
Flankensteilheit Spielzeit: 53:18
Medium: CD
Label: Fuenf 59, 2009
Stil: Prog Rock


Review vom 22.10.2010


Steve Braun
Um jeden mit Strom durchflossenen Leiter bildet sich ein Magnetfeld. Diesen Effekt nennt man Elektromagnetismus. Bewegte Ladungen (Strom) sind dessen Ursache. Die Feldlinien des Magnetfeldes liegen wie Kreise um den Leiter. Die Richtung der Feldlinien werden nach der 'Schraubenregel' von der Stromrichtung bestimmt. Wird die Stromrichtung geändert, richtet sich das Magnetfeld neu aus. Dieses Phänomen wurde erstmals 1820 durch den dänischen Physiker Hans Christian Ørsted beschrieben.
Als Flankensteilheit bezeichnet man in der Elektronik die Steilheit (Steigung) der Signalflanken eines Rechteck- oder Schaltsignales, angegeben beispielsweise in Volt pro Mikrosekunde (V/µs). Soweit der Ausflug in die zu meiner Schulzeit abgrundtief gehasste Physik, den ich mir eigentlich ersparen wollte. Wenn sich allerdings eine deutsche Band Magnetissimus Elektro nennt und das Ergebnis langer Studiozeit "Flankensteilheit" betitelt ist, kommt man um diese einleitende Ausschweifung nur schwer herum.
Dieses Album ist nicht nur wegen seiner Ungewöhnlichkeit herausragend. Ganz viel Pink Floyd aus der 1970er-Phase sowie einige Spritzer Can und Kraftwerk - vereinzelt sind auch sparsame Anleihen bei Tangerine Dream wahrnehmbar - ergeben schon eine skurrile Melange. Die Stichworte Krautrock und 'psychedelisch' erscheinen etwas unpassend, denn Magnetissimus Elektros Musik lässt sich nicht auf diese Markenkerne deutscher Rockmusik der 70er Jahre reduzieren und ist schon gar nicht spröde oder sperrig.
Die Suche nach der Bandhistorie im Internet hat meinem Kopfbewuchs bleibende Kollateralschäden in Form von weiteren grauen Strähnen zugefügt. Nicht nur, dass die Suchmaschinen auf zehntausende Seiten für Physiker und Elektrotechniker verweisen - nein, über Magnetissimus Elektro sind nur sporadische Informationen zu gewinnen. 'Umwelteinflüsse' waren also prägend für ihren Sound? Klasse, selten so herzhaft gelacht... aber das hilft meinem Review auch nicht auf die Sprünge. Wenn man der Quelle vertrauen darf, haben Torsten Rose und Fanfan La Tulipe 1979 schon einmal ein gemeinsames Album unter dem ME-Branding mit dem Titel "Antipol" eingespielt, aber auch diese Scheibe bleibt eine Fata Morgana im endlosen Grauschleier des Webspace.
Das Blöcken der Schafe zu Beginn von "Elektromagnetismus" weckt Erinnerungen an Pink Floyds (gewaltig) unterschätztes Album "Animals". Den Sprechgesang kennen wir von Kraftwerk - die Elektronikeinschübe von Can. Wenn dann der Refrain und die Chöre einsetzen, schlägt ein 'magnetischer' Blitz ein: "Us And Them" von Floyds Dark Side Of The Moon. Und genau in Richtung dieser epochalen Scheibe zieht "Flankensteilheit".
Hier sind alle positiven Elemente der Pink Floyd'schen Art Rock-Interpretation vorhanden. Richtig griffige, warme Sounds bestimmen an Stelle elektronischer Spielereien das Geschehen: zumeist warme Hammond-Klänge statt eiskalter Synthesizer, sphärisch ausufernde Klangbilder, packende Bässe und reichlich Gilmour'sche, zumeist jammig ausufernde Gitarrensoli. Und immer wieder verzücken die an Floyds "The Great Gig In The Sky" erinnernden Gesänge der großartigen Jenni Böttcher, man mag es in "Goldene Schwerter" hören. Leicht depressiv-düster präsentieren sich die Texte teilweise, was - wie in "Ich seh' mich" und "Müde" - musikalisch perfekt eingebettet wurde. Der 'Retro-Look' von "Flankensteilheit" wird von gelegentlichen Synthie-Schnipseln, die von einem der Urväter dieser Maschinen - dem Korg MS 20 - stammen könnten, verstärkt. Als wahre Prunkstücke dieses Albums kann man die hypnotischen, zutiefst atmosphärischen Gitarrenparts bezeichnen. Groove vereint sich hier mit Experimentierfreude zu einer überaus dichten Melange, die zudem auch noch ordentlich abrockt. Anspieltipps? Alles und am besten in einem Rutsch hören...
Scherzhaft könnte man sagen, "Flankensteilheit" sei das beste deutschsprachige Album, das Pink Floyd jemals aufgenommen hat. Irgendwo habe ich gelesen »Magnetissimus Elektro - Krautrock lebt!«. Stimmt nicht: Mit Krautrock hat "Flankensteilheit" nichts, aber auch gar nichts zu tun. Es handelt sich vielmehr um warmen, sicherlich retrospektiven, aber qualitativ hochwertigen Prog Rock mit deutschen Texten. Der neugierige Musikfreund mag nicht nur ein Ohr riskieren, sondern auch das Portemonnaie zücken!
Line-up:
Torsten Rose (bass, guitar, vocals)
Fanfan La Tulipe (bass, guitar, keyboards, vocals)
Hadschi Husemann (drums, percussions)
Gäste:
King Kryszler (guitar - #5)
Jenni Böttcher (vocals - #1, 8, 11, 13)
Frank Posiadly (trumpet - #8)
Tracklist
01:Elektromagnetismus (5:11)
02:Dunemagno (5:56)
03:Astronawt (3:56)
04:1963 (1:18)
05:Ich seh' mich (4:22)
06:Goldene Schwerter (5:48)
07:Blue Magno (5:05)
08:Müde (3:20)
09:Spandau (3:51)
10:Dracoola und seine kleine Stratocaster (3:45)
11:Verkehr (4:33)
12:Himmel (1:55)
13:Engel (4:12)
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