Mangroven wachsen nicht nur auf den Philippinen, in Madagaskar, in Brasilien und Australien, in Vietnam und in Angola... sondern seit nunmehr gut zehn Jahren auch in den Niederlanden. Doch nun haben Mangrove tiefe Schneisen in ihren Klangwald geschlagen und sich selbst ordentlich zusammengerodet. Nur ein paar Monate nach ihrer ersten Live-DVD "Live Beyond Reality" kommt die Band mit DVD Numero zwo daher und präsentiert sich mit ausgestöpselten Steckern - akustisch, reduziert auf das Geringstmögliche. "More Or Less" ist für die Band auch ein Experiment - die Antwort auf die Frage, ob 'weniger' auch 'mehr' sein kann, wenn man doch als Prog Rock-Band für gewöhnlich die Klangräume allzu gern zustellt.
Was Mangrove hier gemacht haben, ist aber tatsächlich das krasse Gegenteil - und sicher nichts für jedermann. Der Ort, wo die Band dieses Konzert im Mai 2010 aufgezeichnet hat, ist so intim, wie die dort entstanden Klänge - ein Heimspiel im 'Gigant' in Apeldoorn... Dort ist alles dunkel. Ein Spotlight geht an - rundherum alles schwarz, nur mitten im Lichtkegel sitzt Chris Jonker, an einem Flügel. Nach und nach enthüllen die Scheinwerfer Bassist Pieter Drost, Sänger/Gitarrist Roland van der Horst und Drummer/ Percussionist Aldert Glas - ein 'Special Guest', da die Band seinerzeit gerade ohne Drummer war.
Alle ganz in weiß - und drumherum alles schwarz, alles dunkel (außer der vier kopflosen, weißen Schaufensterpuppen im Hintergrund). Das lässt einen ganz genau hingucken. Und die Klangausstattung ganz genau hinhören! Ein Flügel - daneben aber doch noch ein Keyboard, für's 'Nötigste'. Eine Akustikgitarre, ein Akustik-Bass. Ein kleines Basic-Drumset und ein Percussion-Set mit Bongos und Congas. Die Arrangements der Stücke werden der Instrumentierung gerecht. Vieles beginnt mit lyrischen Klavierkängen, Saitenbegleitung kommt hinzu, wohl dosiertes Schlagwerk, und hier und da Streicher-Atmo oder atmosphärische Hammond-Klänge des Keyboards.
Am Interessantesten sind die 'Unplugged-Mangrove' aber da, wo sie tatsächlich auf jegliche elektronische Unterstützung verzichten. Die Spannungskurven der Longtracks bleiben 'ohne Strom' bestehen, irgendwie... Die Band changiert das Tempo, klar - aber auch insbesondere die Dynamik der verschiedenen Song-Parts. Was normal per Knopfdruck, Klang- oder Lautstärkenwechsel passiert, geht eben 'nur' per Hand und Stimme. Bei "Facing The Sunset" sind es die Akzente des plötzlich sehr lauten Gesangs, die auffallen; bei "Voyager" ist es das gemeinsame Crescendo und Decrescendo der Instrumente zwischen energischen Drangphasen und lyrischen Atempausen.
Mit den akustischen Instrumenten wirken gerade diese atmosphärischen Wechsel 'anders', weil sie so abrupt zu Stande kommen. Gewöhnungsbedürftig, aber interessant! Jede gespielte Note erhält für sich ein außerordentliches Gewicht und eine außergewöhnliche Wirkung. Insbesondere der Flügel Chris Jonkers verströmt diese Tiefenwirkung, die ein Keyboard einfach nicht erreicht. So, wie die Stücke arrangiert sind muss ich hier und da unweigerlich an " Genesis For Two Grand Pianos"-Serie denken, zumal der musikalische Stil ja auch passt. Nur, dass hier kein zweiter Flügel, sondern die Akustikgitarre für Duelle und Duette sorgt.
Bei einem Longtrack wie "Time Will Tell", zum Beispiel. Wenn der richtig Fahrt aufnimmt, zeigen Mangrove mit ihren hübsch verproggten Parallelläufen, welch gute Techniker sie sind. Taktgeber Aldert Glas begleitet das Ganze mit den Besen, um nicht zu dick aufzutragen. Dagegen ist es bei "Facing The Sunset" die genau richtige Entscheidung, die Drums hart anzuschlagen. Schließlich beginnt der Song schon mit bedrohlichen Klavierklängen, bevor Glas zu nervösen Orgelbewegungen eine gewisse Spannung halten muss - 'akustisch' heißt nicht automatisch zart und balladenhaft. Und binnen eines Taktschlags ändert sich die Anmutung wieder komplett.
Ähnlich verfahren die Musiker mit dem Dreiteiler "Zone" "I" bis "III", der unheimlich viel Spannung schon allein durch erweiterte und verminderte arpeggierte Akkorde bezieht, wenn sich die Songstrukturen langsam und einfühlsam ausbreiten. Oder mit "Wizard Of Tunes" mit seinem einprägsamen Refrain und sich unheimlich rasch auf- und abbauender Bestimmtheit. Wenig spektakulär ist da allerdings so ein kleines, sehr eingängiges Stückchen wie "Love And Beyond". Das Schluss-Stück "Beyond Reality", ebenfalls einfach gestrickt, kommt dagegen wieder sehr ansprechend rüber. Die zauberhafte Chorusmelodie erklingt Stufe für Stufe intensiver, zum Schluss auch mit Drums.
Das Mangrove-Experiment ist ein Hörenswertes, ohne Frage. Durch den Verzicht auf viele gewohnte musikalische Mittel werden unzählige Details plötzlich sehr wichtig - die Architektur der Stücke erschließt sich von ganz Neuem. Eine unaufgeregte Kameraführung kommt der intimen Atmosphäre sehr zu Gute. Die Einstellungen sind mit Bedacht gewählt und enthalten einige schöne, wiederkehrende Perspektiven, wie beispielsweise den Blick auf Chris Jonkers Flügel, über dem im Hintergrund noch der Oberkörper des singenden Roland van der Horst zu sehen ist. Die Stimmung der Band ist eine Art beruhigende Konzentriertheit - das passt.
Doch es ist auch Geschmacksache. Die Band wandelt auf einem schmalen Grat. Das Fehlen der 'üblichen' musikalischen Mittel führt zu neuen Interpretationen, zu neuen Lesarten der Stücke - aber teils auch zu einer Art neuem Genre. Die klangliche Varianz leidet am Ende darunter; die Fokussiertheit des Prog-Fans wird durchaus auf eine Probe gestellt. Oder sagen wir: Es besteht Ablenkungsgefahr. Zudem ist der Gesang Roland van der Horsts so akzentuiert, wie er hier nun mal im Vordergrund steht, noch stärker als sonst ein zwiespältiger Fall. Ausgerechnet in den (etwas angestrengten) Höhen wie im Gabriel-Coversong "Here Comes The Flood" kommt der Ausdruck, der mir in den mittelhohen Passagen einfach zu oft fehlt.
Das Experiment "More Or Less" bleibt unterm Strich lohnenswert und mutig und zeigt eine neue Facette komplexer Prog-Musik - vor allem natürlich für Fans und Kenner der Band. Chris Jonker bringt es in seinem Begleittext sehr schön auf den Punkt:
»I felt naked that night. More or less. I realised how different it is to sit down behind a grand piano in comparison to staying behind a stack of keyboards which I am used to do. No wall of sound to hide behind. No endless amount of gear that can blur the wrong notes. Every note played was so clearly present. That naked feeling was emphasized by the four mannequins sitting at the back of the stage. Those four 'men' also symbolized what we did with our music: we undressed our progressive rock tunes.«
Line-up:
Roland van der Horst (acoustic guitars, vocals)
Pieter Drost (acoustic and fretless bass)
Chris Jonker (grand piano, additional keyboards)
Special Guest:
Aldert Glas (drums and percussion)
Tracklist |
01:Zone I
02:Zone II
03:Zone III
04:Facing The Sunset
05:I Fear The Day
06:Wizard Of Tunes
07:I Close The Book
08:City Of Darkness
09:Fatal Sign
10:There Must Be Another Way
11:Love And Beyond
12:Voyager
13:Time Will Tell
14:Here Comes The Flood
15:Beyond Reality
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