Mathilda / Chansonpop
Chansonpop Spielzeit: 56;36
Medium: CD
Label: Westpark Music, 2009
Stil: 'Chansonpop'

Review vom 03.06.2009


Boris Theobald
Chansonpop!
Ende Rezension.
Naja okay - eine ausführlichere Hörprobe haben Mathilda schon verdient! Wenn auch der herrlich plakative Titel dieser CD schon verdammt gut zusammenfasst, was man von Mathilda zu erwarten hat:
Das ist Pop-Musik. Aber keine normale Popmusik.
Und das ist Chanson. Aber kein französischer.
Mathilda 'wohnt' in Berlin. "Chansonpop" ist schon das dritte Album der 2003 von Songschreiber und Gitarrist Florian Bald gegründeten Band. Aber vieles ist neu, nachdem die Gruppe 2007 zwischenzeitlich sogar aufgelöst war und im folgenden Jahr wiederbelebt wurde. Zwei Saxofone sind aus dem Lineup verschwunden, ein musikalischer Elektroniker ist dazugestoßen. Und auch darüber hinaus ist Personal umgetauscht worden. Dazu folgender Ausschnitt eines kleinen 'Interviews' von der Band-Homepage:

»Plattenfirma: Musste es denn ausgerechnet eine neue Sängerin sein?
Mathilda 1-5: Ja.
Plattenfirma: Und dann auch noch eine, die als Schauspielerin bekannt ist?
Mathilda 1-5: Ja.
Plattenfirma: Dann ist es ja gut. Denn - [flüstert] lassen wir den geschäftlichen Kram mal kurz außen vor - [wieder laut] Loretta Stern passt wirklich ganz ausgezeichnet zu Mathilda!
Mathilda 1: Da sind wir aber erleichtert! Wir konnten ja schließlich unserem neuen Pianisten...
Plattenfirma [verdutzt]: Ihr habt einen neuen Pianisten?
Mathilda 1: ... und unserem neuen Schlagzeuger...
Plattenfirma [verdutzt]: Ihr habt einen neuen Schlagzeuger?
Mathilda 1: ... schlecht die alte Sängerin vorsetzen. Wie hätte das denn ausgesehen?«

Mit der neuen Sängerin hat man sich richtig Prominenz ins Haus geholt. Loretta 'Lori' Stern ist als Schauspielerin schon in einigen TV-Krimiserien zu sehen gewesen, moderierte unter anderem Sendungen auf arte und sogar eine Zeit lang das beliebte Fernsehmagazin für Heavy Metal-Nachwuchs auf RTL2, Bravo TV.
Nun zaubert sie also mit ihrer Stimme Emotionen in diese Musik. Diese ist geprägt von eher leisen Tönen. Sie will ganz viel Lori; und kriegt ganz viel Lori. Umschmeichelt wird der Gesang mal von entspannt zurückgelehntem Slow Rock ("Schweinelende", "Ich nenn es Liebe", "Nachts unterwegs"), wahlweise mit souligem Touch ("Anders, als wir dachten"), oder von akustischem Pop Rock ("Helene"), Minimalisten-Reggae ("Der perfekte Moment"), oder von einem zarten Country-Verschnitt ("Am Steuer"). Der Titelsong "Chansonpop" hat von allen Stücken den dynamischsten, aber immer noch sehr legeren Drive, "Nachts unterwegs" ist stärker als andere Lieder elektronisch geprägt.
"Nachruf" ist dagegen mit einer tristen Klaviermelodie absolut ausreichend instrumentiert. Das Piano klingt wie eine nostalgische Spieluhr, die den traurigen Text begleitet. "Nur ein Pferd" ist noch so ein Stück, das nicht viel benötigt - nur eine Akustikgitarre, ein Klavier und etwas Percussion - um Lori Sterns Stimme um so entschlossener klingen zu lassen.
Nicht nur hier, aber hier am Stärksten kommt dieser leicht staubige Charme eines deutschen Chansons zum Vorschein. Ein Lied, das auch die Knef hätte singen können. Es ist diese gefühlte Spontaneität in diesem kleinen, trostlos wirkenden Stück Musik über Abschied - diese selbstbewusste, starke und unglaublich authentische Interpretation schwerer Gefühlslagen, die überzeugt.
Wie hier sind es oft Emotionen, die in den Stücken von Mathilda besungen werden. Sei es die Liebe, die mal eben provokant in einer Reihe mit Inzest und Sodomie genannt wird ("Ich nenn es Liebe"), oder der Schmerz, einen Menschen verloren zu haben, der auch in der Trauer überhaupt nicht glorifiziert wird, sondern all seine Ecken und Kanten behalten darf ("Nachruf"). "Über den Dächern von Nizza" klingt sogar richtig impressionistisch, pittoresk. Natürlich nur mit Klavier, sonst nichts.
Doch es ist beileibe nicht so, dass Mathilda ausschließlich zur Tristesse neigen würden. Das beste Beispiel heißt "Schweinelende" und handelt von einem einfach so in den Tag gelebten, nicht tiefer begründeten, aber um so sympathischeren Gefühl von Glück:
»Heut umarme ich die Welt/ Hab die Hände voller Geld/ Hab zum Glück ziemlich kleine Hände/ Find so sollt' es immer sein/ Mir fällt gar nichts weiter ein/ Als - was? Häh? Frisch gegrillte Schweinelende! Seltsam...«
Seltsam, fürwahr. Mathilda neigen dazu, die Welt genau so dezent entrückt zu beschreiben, wie sie auch wirklich ist. Oder zu sein scheint. Sie texten schon mal in comichaften Denkblasen und lassen diese ganz schnell wieder zerplatzen. So wirft der Titelsong "Chansonpop" einfach mal ein paar schöne Wörter in den Raum und kommentiert sie durch das Fehlen jedes weiteren Kommentars:
»Exklusivität. Polyethlen Ambiguität - oder Kollagen. Kapazität. Inspiration. Frugalität - oder Television. Chansonpop! Chansonpop, Chansonpop. - Polarisation. Kongenialität. Generalabsolution. Promiskuität. Misanthropie. Penetration. Bourgeoisie. Kapitulation.«
Sie können auch ironisch texten, wie über das verkorkste Glück der "Helene"; und sie können auch über sich selber lachen, wie in "Am Steuer", wo Lori Stern - und ausnahmsweise auch Songschreiber Florian Bald als Gastsänger - mit Wildwest-Feeling über Reifendruck und Kühlerwasser singen und pfeifen und sich dabei deutlich hörbar nicht so furchtbar ernst nehmen.
Dieses Mathilda-Album hat schon so einige Facetten. Das ist einfache und originelle Menschen-Poesie in musikalischen Gewändern, die genau so sind, wie eben diese klein-poetischen Texte: nachdenklich, originell, extravagant.
Wenn man nun auf "Chansonpop" einen einzigen Song auswählen sollte, dann müsste es eigentlich "Wie?" sein, mit seinem unheimlich ulkigen, rockigen Drive und seiner beherzten Nonsens-Lyrik:
»Mein Onkel Theo, ein Freund alles Nassen/ Liebt es in kochendes Wasser zu fassen/ Er mag den Moment, wie er gerne erzählt/ In dem sich die Haut von den Händen abschält. […]
Wir fahren mit dem Schlitten den Berg rauf/ Und ziehen ihn dann runter ins Tal./ Wie? Sie sagen, das geht nicht?/ Probier'n sie's doch einfach mal!«
Line-up:
Loretta Stern (Gesang)
Marco Buttgereit (Bass)
Florian Bald (Gitarre)
Stefan Hillebrandt (Piano, Fender-Rhodes, Orgel)
Benny Hauser (Schlagzeug)
Simon Brauer (Elektronik)
Tracklist
01:Schweinelende (3:44)
02:Nachruf (2:24)
03:Wie? (4:12)
04:Anders, als wir dachten (5:49)
05:Nur ein Pferd (4:05)
06:Helene (4:13)
07:Chansonpop (3:23)
08:Über den Dächern von Nizza (3:38)
09:Der perfekte Moment (2:33)
10:Ich nenn es Liebe (4:24)
11:Engel mit falschen Lippen (2:45)
12:Nachts unterwegs (4:22)
13:Am Steuer (6:07)
14:Augen zu, genießen! (5:05)
Externe Links: