Mekong Delta / Wanderer On The Edge Of Time
Wanderer On The Edge Of Time Spielzeit: 50:11
Medium: CD
Label: AAARRG Records, 2010
Stil: Progressive Metal


Review vom 03.07.2010


Boris Theobald
Das Intro... diese akustische Konzertgitarre... zwei Minuten und 18 Sekunden Atemstillstand. Es klingt wirklich sehr 'klassisch', und steckt voller Spannungen, die etwas 'Episches' andeuten.
Jim Matheos mit den ersten Tönen von "Awaken The Guardian - Part 2"? Die verschollenen Tapes von Sieges Evens "Steps"-Sessions? Devon Graves als Buddy Lackey lässt Psychotic Waltz wieder auferstehen und komponiert den Nachfolger von "Halo Of Thorns"?
Nein, es ist eine akustische Referenz an den Beginn des eigenen Klassikers "Dances Of Death (And Other Walking Shadows)" von 1990, an den Mekong-Basser und -Chefdenker Ralf Hubert anknüpft. Die Nachricht der Prog-Saison: Mekong Delta sind leichter verdaulich geworden. Gut, gut... wir reden hier im Komparativ und nehmen mal das letzte Werk "The Lurking Fear" als Referenz. Für Leute, die ansonsten nur Pop-Musik hören, dürfte auch das mittlerweile neunte Studioalbum der Prog-Avantgardisten immer noch klingen wie ein akustischer Präventivschlag.
Ralf Hubert hat seit dem 2007er-Vorgänger die komplette Mannschaft ausgetauscht, präsentiert auf "Wanderer On The Edge Of Time" dennoch ein eingespieltes Team. Zwei Jahre hatte er vor der Veröffentlichung diese Truppe nämlich schon als Liveband beisammen. Zu den Neuen gehören Power Prog-Spezi Alex Landenburg (Axxis, At Vance, Ex-Annihilator) als Nachfolger von
Ulli Kusch am Schlagzeug und Martin LeMar (Tomorrow's Eve, Book Of Reflections) am Gesang. Besonders die Ablösung Leo Szpigiels am Mikro dürften lebensbejahenden Menschen einige Nerven sparen.
Und was liefert uns Hubert da für eine krasse Tracklist mit Klammern und Doppel-Slashes, englischen Titeln plus französischen Vokabeln? Um den Aufbau nachvollziehen zu können, muss zunächst die Storyline grob angeschnitten werden, die übrigens an den Klassiker "Dances Of Death (And Other Walking Shadows)" von 1990 anschließt. Der Protagonist - das ist der Violinist vom Cover - erwacht ohne Erinnerung an das, was passiert ist, in einer postapokalyptischen Ödnis. Fortan versucht er inmitten niedergebrannter, Leichen überströmter Städte und toter Landschaften zu ergründen, was diese finale Katastrophe verursacht hat.
Es beginnt eine Reise voller surrealer Begegnungen. Er trifft unter anderem auf einen mysteriösen Magier, der mit der Welt jongliert, oder auf Luzifer, der den Kopf eines Königs in der Hand hält, auf dem noch die Krone sitzt. Der Teufel ergötzt sich daran, dass nicht er Schuld am Ende der Welt hat, sondern die Menschheit sich selbst ausgerottet hat. Auch trifft der Violinist einen noch lebenden Menschen - einen greisen Mann, der völlig fernab der Realität auf die Rückkehr seiner Geliebten wartet; nur seine Liebe ließ ihn überleben, vielleicht schon seit Jahrhunderten... In alten Bibliotheken gelingt es dem Violinisten schließlich, die Vergangenheit zu rekonstruieren: Die Menschen haben einander in fanatisch geführten Religionskriegen ausgerottet.
So wie die Story abläuft, so ist auch die Musik ganz explizit in Szenen unterteilt. Der Aufbau und die Struktur wiederkehrender Elemente und Themen orientiert Klassik-Experte und Mussorgsky-Verehrer Ralf Hubert teilweise am Sonaten-Aufbau. Es gibt Episoden mit akustischer Konzertgitarre, die laut Hubert teils maurische Einflüsse haben, zudem bombastische Instrumentalstücke der ganzen Band, mal als kleine Fragmente und mal als ausgedehnte, teils nahezu 'jazzige' Themenvariationen, und natürlich Stücke mit Gesang. Und die französischen Ausdrücke in Klammern bezeichnen... wer sich auskennt, hat's eh schon erkannt - Tarotkarten!
Nach besagtem "Intro" bricht die "Ouverture" über den Hörer herein - das ist der aufwühlende und hochtechnisierte Mekong Delta-Prog.
"A Certain Fool (Le Fou) // Movement 1". Erstmals tritt Martin LeMar auf. Akustische Gitarre und Schlagzeug. Eine surreale, ruhige, bisweilen gespenstische Atmosphäre und packender, elegischer Gesang - der Violinist versucht zu ergründen, was passiert ist. Ein orchestrales Crescendo, eine filmreife Spannungskurve. Dann ein instrumentales Zwischenspiel, das uns zur nächsten Szene bringt.
"The 5th Element (Le Bateleur) // Movement 2" - der erste 'richtige' Prog Metal-Song. Und was für einer! Ein Psychotrip voller Hochspannung und Dramatik mit einem inbrünstig agierenden Martin LeMar, der den Hörer mit seiner kraftvollen Emotionalität tief in die Geschichte reinzieht. Es klingt schon wieder nach Psychotic Waltz. Und auch Mekong Delta tanzen hier einen 'Tanz mit dem Wahnsinn'. Er beginnt im 5/4-Takt; aber dieses eingängige Leitmotiv ist noch die simpelste aller Varianten in diesem Song. Es werden Stimmungen erzeugt, bei denen man sich nachts nicht allein auf die Straße trauen würde. Jedenfalls nicht, ohne sich ständig umzudrehen. Die Bannwirkung ist immens!
Der nächste Track mit Gesang, "The Apocalypt - World In Shards (La Maison Dieu) // Movement 3", wird noch bedrohlicher, beengender, atemloser. Das ist was für Leute, die Nevermore schon früh morgens zum Frühstück hören. "Interlude 3 - Concert Guitar" - Luft holen, für die Begegnung mit Luzifer! "King With Broken Crown (Le Diable) // Movement 4" - den Weg zur theatralischen Gesangsdarbietung bereitet eine betörende Gitarren-Hookline... monumental, majestätisch und monströs. Hier kann man die Mussorgsky-Affinität bestens erahnen. Es kommen gerade mal eine Hand voll 'richtige' Songs auf diesem Album vor, und jeder einzelne ist ein ganz großer Wurf.
"Intermezzo (Instrumental) // Movement 5" - kleinteilig, vielschichtig, eine emotionale Achterbahnfahrt. Kein Vergleich zum synaptischen Frontalangriff auf gleichbleibendem, übersteuerten Energielevel von "Lurking Fear". "Affection (L'Amoureux) // Movement 6" - was ist denn das? Ein atmosphärischer, wehmütiger Song mit akustischer und E-Gitarre - die Liebeserklärung des alten Mannes, gefangen in seiner zeitlosen Traumwelt. Eine faustdicke Überraschung! "Mistaken Truth (L'Hérétique) // Movement 7" - ein grandioses 'Finale' vor dem rein instrumentalen "Finale", macht wieder Psychotic Waltz-Fans überglücklich.
Was für ein Brett... Ralf Hubert hat sich selbst übertroffen. "Wanderer On The Edge Of Time" ist Fest für die Prog-Sinne, atmosphärisch unglaublich facettenreich und ausdifferenziert. In seiner Gesamtheit ist das Album mit seinem fragmentarischen Aufbau derart ausgeklügelt komplex und vertrackt, dass es an das hochexperimentelle "For The Love Of Art And The Making" von Beyond Twilight erinnert. Doch zugleich sind die Puzzle-Stücke des Gesamtwerkes für sich genommen eigenständig, überwältigend stark komponiert und jedes für sich unverzichtbar. Die Storyline mit ihrem düsteren Endzeit-Szenario wird akustisch zu einem cineastischen Epos ausgebaut. All das schafft Hubert, ohne dass der charakteristische, aggressive Grundton Mekong Deltas nur im Geringsten leiden würde. Dank der neuen Mit-Musiker erreicht Ralf Hubert - vielleicht auf dem kreativen Höhepunkt seines Schaffens - dieses Mal allerdings Höchstwerte in der A- und in der B-Note.
ArtworkEin aufwändiges Fantasy-Artwork (siehe Grafik!) rundet das Album auch visuell ab. Ausgeklappt wird das Cover zu einem von sechs Teilen eines Plakates, das die einzelnen Szenen illustriert. Und warum ist dieses Album nun 'verdaulicher' (siehe Anfang)? Weil es das erste von Mekong Delta ist, das auch für Anhänger von Bands wie Symphony X und Circus Maximus ein absoluter Pflichtkauf ist. 9,5 von 10 RockTimes-Uhren für ein Album für die Ewigkeit.

Line-up:
Ralf Hubert (bass, concert guitar)
Alex Landenburg (drums, percussion)
Benedikt Zimniak (electric guitar)
Erik 'Adam H.' Grösch (electric guitar, 6 and 12 acoustic steel string guitars)
Martin LeMar (vocals)
Tracklist
01:Intro - Concert Guitar (2:18)
02:Ouverture (2:50)
03:A Certain Fool (Le Fou) // Movement 1 (3:37)
04:Interlude 1 - Group (0:52)
05:The 5th Element (Le Bateleur) // Movement 2 (6:32)
06:Interlude 2 - Group (0:34)
07:The Apocalypt - World In Shards (La Maison Dieu) // Movement 3 (5:43)
08:Interlude 3 - Concert Guitar (2:03)
09:King With Broken Crown (Le Diable) // Movement 4 (5:41)
10:Intermezzo (Instrumental) // Movement 5 (5:23)
11:Interlude 4 - Group (2:11)
12:Affection (L'Amoureux) // Movement 6 (2:53)
13:Interlude 5 - Group (0:51)
14:Mistaken Truth (L'Hérétique) // Movement 7 (5:10)
15:Finale (2:56)
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