Die kleinen, unscheinbaren Dinge haben manchmal den größten Effekt. Kenneth Pattengale und Joey Ryan haben nichts als ihre Stimmen und zwei akustische Gitarren, mit denen sie die knappe dreiviertel Stunde ihres Albums "The Ash & Clay" bestreiten. Aber dieses Duo, das sich Milk Carton Kids nennt, hinterlässt einen großen Eindruck. 2011 in Los Angeles gegründet, haben Ryan und Pattengale binnen kurzer Zeit bereits zwei Alben veröffentlicht ("Retrospect" und "Prologue"), die sie auf ihrer Homepage zum kostenlosen Download anbieten. Und nun scheinen sie etwas Großes zu starten. Es passt alles. Die 'Milchtüten-Jungs' haben ein Label im Rücken, sind gefragt, waren schon in Conan O'Briens Talkshow zu Gast, haben drei Songs für den Soundtrack zum Matt Damon-Film "Promised Land" beigesteuert ... wenn es läuft, dann läuft es. Aber nicht einfach so, sondern weil die Milk Carton Kids (nicht nur?) beim amerikanischen Publikum einen Nerv treffen.
Das Duo ist bestimmt mehr als 'nur' die Ausprägung eines Folk-Revivals. Ihren Stil als 'Folk Pop' zu bezeichnen, wird ihnen auch nicht gerecht. Was haben die Milk Carton Kids mit Pop zu tun, außer vielleicht, dass sie plötzlich sehr populär sind und die Leute sie mögen?
Oft werden sie mit Simon & Garfunkel verglichen. Das ist gut nachvollziehbar, besonders bei den Stücken im mittleren Tempo, den besonders gedankenversunkenen, pittoresken, wie "The Ash & Clay", "The Jewel Of June" oder "Hear Them Loud". Einfach ein Ereignis, diese Harmonien, die im Zusammenspiel der Gitarren entstehen ... und dieser Gesang, der zwar aus zwei Stimmen besteht - aber schon allein die Vorstellung, die beiden auseinanderzudividieren, wirkt völlig abwegig. Sie sind so unterschiedlich, und die Kombination beider traumhaft schön: Joey Ryan - hoch und klar, beinahe im Kopfstimmenbereich - und Kenneth Pattengale mit dieser lässig-abgebrühten Bodenhaftung. Es ist, als ob ein verträumter Singer/Songwriter und ein erdiger Cowboy zusammen Musik machen würden.
Apropos Cowboy ... Simon & Garfunkel stimmt eben doch nicht ganz - es steckt viel mehr Country in den Milk Cartoon Kids. Und das gilt vor allem für die flinken, schnellen Nummern - optimistisch und leicht, aber immer mit einer unterschwelligen Prise Melancholie. "Hope Of A Lifetime", "Heaven" und das schon fast unverschämt 'unstädtisch'-ur-amerikanische "Honey, Honey" - es ist ein Fest, was die beiden mit zwei Gitarren tun können, mit welcher aberwitzig selbstverständlichen Fingerfertigkeit sie instrumental das unterstreichen, was sie auch stimmlich so stark macht: Zwei werden zu einem. Selbst die Elemente der Agogik - leichte Verzögerungen, das intuitive lauter und leiser Werden ... die beiden scheinen in diesen Momenten unzertrennlich. Auch als instrumentales Gitarrenduo würden Ryan und Pattengale Säle füllen. Zum Heulen schön sind die ganz langsamen Nummern: der nostalgisch schwelgende 'Walzer' "Snake Eyes", das traurig-bittersüße "Years Gone By", das tief betrübte, aber nicht hoffnungslose "On The Mend":
»I travelled half way around the world to tell a story with no end
The dirt under a nation
forsaken, on the mend
I could say that for a moment it all made perfect sense
No one holding posture, nothing heaven-sent
Hold the hand that leads you there's no God here to believe
What matters moves around us in the air we breathe«
Die offiziellen Bandfotos sind schwarzweiß; und das Artwork des Albums besteht aus Archivfotos aus der Library of Congress. Das Foto auf der Booklet-Rückseite von einem Doppeldecker-Testflug 1912 gibt es im Fanshop auch als T-Shirt-Aufdruck in Sepia-Tönen. Pettengale und Ryan sind unglaublich 'retro'. Ich höre mir die Aufnahmen der Dixon Brothers an und es fällt leicht, dabei die Milk Carton Kids im Ohr zu behalten; einige Faktoren der Zeitrechnung und Musikmode rausgerechnet. Doch das Knacken und Rauschen ist da, nur nicht hörbar. Und dennoch scheinen die beiden niemanden zu imitieren, sondern sind ganz sie selbst. Ich kapiere nicht wirklich, warum diese Musik so ergreifend ist; was ist eigentlich das Besondere? Zwei Jungs - deutlich jünger als sie klingen - spielen Akustikgitarre und singen. So what? Aber zum Verstehen braucht man den Verstand - und das ist ohnehin nicht die Ebene, auf der einen die Milk Carton Kids treffen.
Es ist schon mitten in der Nacht. Ich warte noch, bis ich ins Bett gehe, bis "The Ash & Clay" ein weiteres Mal komplett durchgelaufen ist. Ich nehme keinen Schnaps, keinen Brandy und keinen Scotch, sondern heute Nacht einen Bourbon. Und lasse meine Gedanken in dieser puren, minimalistischen, fast kleinlauten Musik davontragen. Es läuft der Titelsong:
»The swing sets are empty like dirt turned the dark of the night
The center of this town it used to whirl in the glow of twilight
It might look like God's away with all the trouble these days
We'll come home before the girls are grown
We're coming home tonight
What, oh, have we done to run this country into such a sight
Stolen from our brothers like we couldn't find a fair enough fight
You wait on promise you will say
Won't forsake the ash and clay
Let's come home before the girls are grown
Let's come home to fight«
Line-up:
Kenneth Pattengale (vocals, guitar)
Joey Ryan (vocals, guitar)
Tracklist |
01:Hope Of A Lifetime (3:14)
02:Snake Eyes (2:38)
03:Honey, Honey (2:20)
04:Years Gone By (4:29)
05:The Ash & Clay (3:39)
06:Promised Land (3:50)
07:The Jewel Of June (3:01)
08:Whisper In Her Ear (4:05)
09:On The Mend (3:53)
10:Heaven (3:26)
11:Hear Them Loud (3:03)
12:Memphis (4:47)
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