Bilder ... das sind nicht bloß die Dinger, die in Museen rumhängen und oft mehr kosten, als sie wert sind. Mindspeak formulieren es so:
»When we read a good story, we create pictures with our minds. When we think about life, we have pictures in our heads, be it moving or stills. When we die, pictures of our lives flash before our eyes until our very last breath. A story of living and dying - pictures.«
"Pictures" ist das Debütalbum des fünfköpfigen Progressive-Nachwuchses aus Wien - allesamt gerade mal erst höchstens Anfang 20. Mindspeak sind also ganz frisch im Geschäft und machen gleich 'groß' mit einem Konzeptalbum, das sich mit der Gedankenwelt einer Protagonistin an der Schwelle zwischen Leben und Tod befasst. Eine steriles Krankenzimmer und eine Komapatientin, gefangen in sich selbst. Regungslos ist sie aber nur äußerlich; sie wird schier erdrückt von beklemmenden Gefühlen. Dann der Moment, in das Leben in ihr kurz aufhört, und der in Wirklichkeit viel mehr als nur ein Moment ist. Angst und Hoffnung, Finsternis und Klarheit - zahllose 'Bilder' von dem, was war und was ist wühlen die Protagonistin am Punkt zwischen Dies- und Jenseits auf. Dann das Wachwerden, zurück im Leben? Wir brauchen Fragezeichen, denn so konkret wird die Geschichte nicht erzählt. Wir haben Spielraum für Interpretation - und das ist auch gut so.
Diesen Spielraum nehmen sich Mindspeak auch musikalisch heraus und lassen den Hörer sich sein eigenes 'Bild' machen. Ob das des jetzt Prog Metal oder Prog Rock ist - die Grenzen verschwimmen da recht angenehm. Mit dem Longtrack "Tragedy Of Perfection" schwenkt das Pendel zu Beginn von "Pictures" stärker in Richtung Metal. Die Nummer erinnert immer wieder an Dream Theater - zunächst cineastisch-dramatisch an "Scenes From A Memory", und dann später zunehmend an jene späteren Dream Theater (z. B. "Octavarium", "A Dramatic Turn Of Events"), die sich bewusst hörbar an die eigenen Einflüsse erinnern.
"Tragedy Of Perfection" besteht sowohl aus proggigen Rhythmuswechseln der elegant-unaufdringlichen Art als auch aus psychedelisch-schwebenden Passagen. Und nicht zuletzt aus solchen Elementen, die an diesem Punkt überraschen können. Nach zweieinhalb Minuten ist erstmals Sängerin Viktoria Simon zu hören - zunächst allein, und dann im Kanon mit Gastsänger Johannes Richter. Schön, wie die Band aus dem stimmlichen A-cappella-Einstieg heraus Groove und Drive entwickelt - epischen Aufbau, das können sie! Und epische Abschlüsse auch: "Tragedy Of Perfection" endet eben nicht erwartbar mit einem Schlussrefrain, sondern es ist das markante, spannungsgeladene Heavy-Riffing aus dem instrumentalen Intro, das am Ende wieder auftaucht und dem Zwölfminüter einen blitzsauberen Rahmen zimmert.
Es wird nicht weniger episch - im Gegenteil. Das folgende "The Big Sleep" besteht aus sechs Bestandteilen. Hier zeugen Mindspeak wesentlich deutlicher und direkter von ihren Prog Rock-Einflüssen. Kurz (und - okay - überspitzt) gesagt: "The Big Sleep" könnte eine Spock's Beard-Nummer nach Morse'schem Strickmuster sein. Da war doch was ... na klar: Der zuvor gehörte Kanon könnte schon 'Bart'-inspiriert gewesen sein. Aber erst jetzt die Musik drumrum. Und wäre es eine Morse-Nummer, es wäre eine richtig gute! Sowohl im Gesang als auch in den Instrumentalparts tauchen einige rhythmische und melodische Ohrenspitzer auf; und allesamt balanciert die Band präzise auf dem schmalen Grat zwischen enorm eingängig und handwerklich exquisit. Es bleibt richtig viel hängen: die jazzig-proggig miteinander vernetzten Retro-Synthies und Gitarren, die prägnant-brummeligen Bässe, die butterweichen Vocal Lines.
Viktoria Simon hat etwas von Christina Booth, die ganze Band durchaus ohnehin von Magenta, aber auch mal von Pendragon oder Overhead, IQ oder gar King Crimson. Doch niemals zu experimentell und nicht zu verkopft. Die Songstrukturen sind nachfühlbar, selbst bei richtig langen Spannungsbögen. Die einzelnen Parts von "The Big Sleep" sind klasse miteinander verwoben. Ein leidenschaftliches Outro-Solo über samtweichen Hintergrundharmonien in "Part II: Empty Faces" leitet nahtlos über in das gedankenversunkene, lyrisch-bittersüße "Part III: Balance". Schritt um Schritt wird dessen atmosphärische Leichtigkeit durch Orgelsounds beschwert und durch einen aufkeimenden Drive über Minuten hinweg behutsam, aber beharrlich mit Energie gespeist. Einfach schön und sehr emotional! Am Schluss zieht das Tempo an, direkt rein in das energische, dynamische "Part IV: A Stranger Coming Home".
Alles hängt miteinander zusammen, alles fließt. Mindspeak schaffen es, dass keine einzige Minute verzichtbar wirkt. Im instrumentalen "Part V: Kaleidoscope" taucht neben einem Saxofon auch wieder ein ziemlich Morse'eskes Thema aus "Part I: Overture" auf; und in "Part VI: Letting Go" eine Reprise aus "Part II: Empty Faces". Es ist ohnehin schon schön, diese malerischen Melodien noch einmal zu hören, und dann sogar als 'Zugabe' in sorgfältig arrangiertem Satzgesang. Und auch, wenn Sängerin Viktoria Simon im Ausdruck und Facettenreichtum sicherlich noch zulegen kann, so wirkt diese entwaffnende Klarheit in ihrer Stimme doch ausgesprochen ästhetisch und authentisch.
Auf den Vielteiler "The Big Sleep" folgt mit "Reawakening" noch ein weiter Longtrack - knapp zehn Minuten, die wieder eine ganz neue Stimmung zum Ausdruck bringen. Die Schlussnummer, erneut in erfrischend unverstaubter Retro Prog-Manier gehalten, schüttet ganz viel positive Energie aus - aufhellendes Dur-Piano, feierlich-smoothe Parallelbewegungen, quietschfidele Bassfiguren, Hand-claps, charismatische Chöre. Dieser Schlusspunkt passt zum Konzept von "Pictures". Es ist ein richtig rundes Album. Dessen junge Protagonisten verstehen es sehr gut, immer wieder die Grundspannung anziehen zu lassen und sie wieder aufzulösen - in der Songarchitektur immer großspurig, aber nie kompliziert. Nie zu verkopft, und doch immer bedeutungsschwanger. Nicht angeberisch spektakulär, aber immerzu handwerklich distinguiert. Betont melodisch, aber nicht kitschig.
Schon auf ihrem Debütalbum und in so jungen Jahren meistern Mindspeak damit viele Zwickmühlen, in denen sich zahlreiche Genrekollegen allzu gern verrennen. Im Gegensatz zu den Bildern im Museum wird "Pictures" im CD-Regal daher kein Staub ansetzen.
Und es ist mehr wert als es kostet.
Line-up:
Viktoria Simon (vocals)
Simon Nagy (bass, electric upright bass)
Alex Clément (guitar, background vocals)
Christoph Kasparovsky (keyboard, e-organ, background vocals)
Gabriel Lahrmann (drums, percussion, background vocals)
Guest musicians:
Johannes Richter (vocals - #2,4,6,9)
Thomas Körner (saxophone - #7)
Tracklist |
01:Into The Void (2:02)
02:Tragedy Of Perfection (12:35)
03:The Big Sleep, Pt. I: Overture (05:51)
04:The Big Sleep, Pt. II: Empty Faces (6:56)
05:The Big Sleep, Pt. III: Balance (5:02)
06:The Big Sleep, Pt. IV: A Stranger Coming Home (3:38)
07:The Big Sleep, Pt. V: Kaleidoscope (4:57)
08:The Big Sleep, Pt. VI: Letting Go (3:11)
09:Reawakening (9:38)
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Externe Links:
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