'Noch eine?' hab ich gedacht, als ich diese Band und ihr zweites Album "Am Rande der Welt" entdeckte. Gibt es doch schon so zahlreiche Vertreter, die die Oberklasse dieses beliebten musikalischen Bereiches besetzen. Subway To Sally, In Extremo, Schandmaul, Cultus Ferox fallen mir sofort ein. Ist da noch Platz für Nachtgeschrei? Mal schauen - gehen wir ins Album.
Ein tolles, intelligentes Intro namens "Fiur" ist das erste, was man hört. Von einer Akustikgitarre getragen, kommt hier genau die richtige Stimmung auf. Dramatik wird aufgebaut, ohne, dass man sich ihr entziehen kann. Und schon ist es wieder passiert: Man fühlt sich zu Hause, angekommen in der abenteuerlichen und romantischen Welt des deutschen Folk Metal.
Wenn dann der erste echte Song beginnt, ist man von dem Intro schon so gepusht, dass es einem nicht mal negativ auffällt, dass er die gleiche Machart besitzt wie die Songs vergleichbarer Bands. Recht simple Chords bilden das Metal-Gerüst, begleitet von der eigentlichen Melodie - transportiert durch Mittelalter-Dudelei. Aber dennoch freut man sich über den Song, in dem die Band endlich mit ihrem eigentlichen Anliegen rausrückt.
Beim dritten Song, "Herz Aus Stein", verfliegt die Euphorie wieder etwas, ist er doch dem vorherigen einfach zu ähnlich. Und spätestens hier wird schon klar, dass Nachtgeschrei zur Topliga der Folk Metal-Bands gehören müssen: Sie haben genau die gleichen Probleme wie ihre Genrekollegen.
So bleibt ein beträchtlicher Teil der Konzentration ungenutzt, was Gelegenheit gibt, diese kurz etwas genauer auf den Sänger zu richten - ja immer ein sehr wichtiger Faktor in diesem Bereich. Ein guter, charismatischer Sänger entscheidet über den Erfolg. Und hier gefällt mir die Stimme eigentlich recht gut. Sie ist nicht allzu kräftig, aber hat genau den glaubwürdigen, wettergegerbten Klang, den man einfach dafür braucht.
"Fernweh" kann dann weder die kleine Enttäuschung noch die erste Euphorie bestätigen - die Art und Weise ist immer noch zu bekannt; dafür ist der Refrain wunderbar emotional und mitreißend. …Der nächste Höhepunkt ist der folgende Kracher namens "Niob". Warum? Weil er schnell und heavy ist, und die mittelalterliche Instrumentierung mal in den Hintergrund tritt. Toller, starker Song; und Sänger Hotti kann richtig glänzen.
"Lauf!" bietet wieder nix wirklich Neues, aber man hat sich inzwischen so in die Thematik reingegroovt, dass man es einfach nur noch genießt. Zudem gibt's hier wieder einen super Refrain - dafür haben Nachtgeschrei echt ein Händchen. Aber das müssen sie auch - Mitsing-Passagen sind enorm wichtig. Gerade in diesem Genre hängt alles von der Mundpropaganda und den Konzerterfahrungen ab, die die Fans machen.
"Windfahrt" - auch irgendwie schon mal gehört. Aber irgendwie trotzdem schön - man kann den Wind förmlich spüren. "Nur ein kleines Stück vom Himmel" besticht dann vor Allem durch die Texte - noch nichtmal so sehr durch die Wortwahl, sondern vor allen Dingen durch die schöne, melancholische Wirkung.
"Wahrheit" - endlich mal was Anderes. Eine Halbballade haben wir hier, auf ebenso gutem Niveau. Hier wird besonders deutlich, dass sich Nachtgeschrei nicht dem Schraubstock der zwanghaft mittelalterlichen und hochgestochenen Sprache unterwerfen wie andere Bands. Sie trauen sich - auf dem ganzen Album - auch mal Sätze loszulassen, die vielleicht nicht so wohlig und ehrenhaft in den Ohren klingen. »Ich seh' nich' ein, was du erzählst«, klingt es in diesem Song in jedem Refrain.
"Der Totmacher" - Altbekanntes. "Glut in euren Augen" schließt dann das Album auf die absolut passende Art ab. 'Was bleibt?' ist dort die Frage, und das fragen wir uns nach dem Genuss des Albums auch. Aber nicht lange. Es bleibt nicht weniger als der Eindruck, mit "Am Rande der Welt" ein tolles Album gehört zu haben.
Die Kritikpunkte sind klar und schnell erkannt. Wie andere Bands auch haben Nachtgeschrei Probleme, neue musikalische Wege zu gehen und die recht engen Limitationen des Mittelalter-Metal zu sprengen. Aber neben denselben Schwächen wie bei anderen Vetretern können Nachtgeschrei auch dieselben Stärken für sich verbuchen. Es ist die besondere Dramatik, dieses besondere Feeling, das eine solche Band rüberbringen muss, dass man sich als Hörer sofort in eine andere Zeit versetzt fühlt - oder zumindest in eine romantisch-verklärte Variante, was dem Spaß daran keinen Abbruch tut.
Nachtgeschrei, das sage ich im Brustton der Überzeugung, brauchen sich, vor allem mit ihrer etwas unverblümteren Art, vor keinem Mitbewerber um die Spitzenplätze im Bereich Folk Metal zu verstecken!
Line-up:
Hotti (Gesang, Gitarre)
Joe (Drehleier, Akkordeon)
Nik (Dudelsack, Flöte)
Tilman (Gitarre)
Sane (Gitarre)
Oli (Bass)
Stefan (Schlagzeug)
Tracklist |
01:Fiur
02:Muspili
03:Herz aus Stein
04:Fernweh
05:Niob
06:Lauf!
07:Windfahrt
08:Nur ein kleines Stück vom Himmel
09:Wahrheit
10:Der Totmacher
11:Glut in euren Augen
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