Nefacio / lauf!
lauf! Spielzeit: 51:18
Medium: CD
Label: Nicrothal
Stil: Deutschrock

Review vom 12.11.2011


Sabine Feickert
Mal wieder so ein Album, das sich in keine Schublade stecken lässt. Als 'medieval/folk-rock' ist es hier bei uns in der Redaktion aufgeschlagen, aber das trifft es nur zum Teil. Wer also bei Sackpfeifen und Drehleiern genervt abwinkt, der möge hier ruhig trotzdem ein Ohr riskieren, denn mittelalterliche Weisen spielen trotz des in dieser Zeit angesiedelten Themas eine eher untergeordnete Rolle. Bass und Drums – soviel sei gleich vorweg verraten – zeigen sich von einer ganz überraschend vielseitigen Seite.
'Mittelalterhörbuch mit Musikpassagen', das geht mir nach dem ersten kurzen Reinhören durch den Kopf.
"lauf!" erzählt eine durchgehende Geschichte und könnte so eigentlich als Konzeptalbum durchgehen. Aber auch das ist nicht wirklich passend, denn das gesprochene Wort steht stärker im Vordergrund als dies bei gängigen Konzeptalben der Fall ist. Also doch Hörbuch? Auch nicht wirklich, denn dort dient ja normalerweise die Musik lediglich als Untermalung – hier bietet sie mehr.
Schubladen jeglicher Gattung werden dem Teil einfach nicht gerecht, es ist in seiner Art einzigartig. Auch vom rein musikalischen her lässt es sich in keine Kategorie stecken, hier Sprechgesang, da rockige Passagen, Funk-Elemente, manchmal klingt es ein bisschen melancholisch und dann wieder ziemlich fetzig. Und in der ein oder anderen Ecke wird es tatsächlich auch mal mittelalterlich - Baba Hail ist Manchem vielleicht noch als Bassist bei Ingrimm und Van Langen in Erinnerung. Was beim reinen Lesen vielleicht nach einer ziemlich unentschlossenen Mischung klingt, hört sich aber ganz anders an.
Ursprünglich noch für die typische Mittelalterinstrumentierung angelegt, hat Hail das musikalische Setting schrittweise ganz stark reduziert auf eine Minimalinstrumentierung mit Beilbass und Schlagzeug. Ich bin bass erstaunt, welche erstaunlichen und melodischen Klänge er den Rhythmusinstrumenten entlockt. Er entwickelte für den Bass seine eigene Spielweise, bei der der Daumen der rechten Hand sämtliche Basstöne übernimmt und die anderen Finger Akkorde spielen. Auch das Schlagzeug hat bei ihm einen ganz eigenen, markanten Sound, der an die Spielmannstrommeln erinnern soll.
Im Studio spielt Baba beide Instrumente selbst ein - bei Live-Auftritten holt er sich ein Mitglied einer anderen Mittelalterband an die Trommeln. Auf "lauf!" unterstützt ihn eine stattliche Liste an Gastmusikern/-sprechern, darunter auch der Ex-In Extremo Der Morgenstern, Buzz Dee von Knorkator, Subway To Sally-Gitarrist Bodenski und Markus van Langen.
Nefacio (sehr frei aus dem Lateinischen übersetzt mit "anders handeln") wird von Baba Hail als Projekt verwirklicht, das er, nachdem er ziemlich viel Pech hatte, auf die Beine stellt, um eine Geschichte zu erzählen, die ihm am Herzen liegt:
Der Spielmann Barbas soll anstelle seines verstorbenen Vaters dessen Position als Scharfrichter antreten. Nachdem sich Barbas zunächst weigert, den Posten zu übernehmen, wird seine Mutter eingekerkert, um den Sohn gefügig zu machen und zum Amt zu zwingen. Barbas soll Mütter hinrichten, die Essen für ihre hungernden Kinder gestohlen haben und verwehrt den Gehorsam.

Als sich seine Mutter im Kerker umbringt, ist das Druckmittel hinfällig und Barbas frei. Die Mutter erklärt ihre Motivation - eindrucksvoll gesprochen von Carol Doyle - und nimmt ihm "Das Versprechen" ab seine Schwester zu finden. Diese wurde von einer Räuberbande entführt. Darüber hinaus soll Barbas seiner Berufung folgen und Spielmann werden.
"Nie mehr" schwört er sich, will er Leid bringen, Kinder zu Waisen und Frauen zu Witwen machen und begibt sich auf die Flucht.
Doch zuvor wird er selbst gefangen genommen und eingekerkert. Als besondere Demütigung und Folterung, ziehen ihm seine Peiniger einen "Ring" durch die Nase, der eine deutlich sichtbare Verbindung zwischen dem Musiker Baba und seiner Figur Barbas bildet. Mit Hilfe einer Mitgefangenen gelingt ihm die Flucht und sein neues Leben als Spielmann kann beginnen. In dieser 'Funktion' kann er mit dem Traditionell "Ai vis lo lop" (auch bekannt von In Extremo, Saltatio Mortis, Van Langen) auch mal musikalisch in den mittelalterlichen Rahmen eintauchen. Typische Spielmannsweisen sind es aber im Großen und Ganzen nicht, die Baba darbietet.
Und auch wenn sich die Musik nicht als Untermalung unter die Geschichte unterordnet, so dient sie doch immer der Story, erscheint so, wie es auch erzählerisch Sinn macht und vermittelt die jeweilige Stimmung. Hier ein bisschen melancholisch-bluesig, dort eine Prise Funk, etwas Folk, ein fast schon jazziges Schlagzeug und Singer-/Songwriter kommt hier so zusammen, wie es zur Geschichte passt, auch wenn sich dazu unterschiedlichste Stilrichtungen verbinden und vermischen.
Ganz deutlich fällt mir das auf bei "Nefacio die Hymne". Lässt mich hier der Anfang noch an einen nicht ganz so versoffen klingenden Tom Waits denken, nimmt das Lied dann eine schwungvolle Wendung, die beispielsweise die Pogues oder auch Runrig häufiger mal einsetzen – das alles aber ohne direkt sagen zu können 'hier klingt er wie...'.
Baba Hail klingt wie Barbas, sein Spielmann und Geschichtenerzähler.
Die letzte Nummer "No More" fällt nicht nur sprachlich aus dem Rahmen. Nicht nur, dass hier die ganze Geschichte nochmal in englischer Kurzfassung erzählt wird, sie ist auch deutlich reichhaltiger instrumentiert und schwer rockig.
Tja und auch wenn ich nach dem zigsten Durchhören das Ganze noch immer nicht in irgendeine Schublade stecken kann und das auch immer weniger will, so möchte ich das Album doch allen ans Herz legen, die sich eine Portion Offenheit für Neues bewahrt haben.
Wer sich auf eine Geschichte einlassen und Musik auch als Mittel zum Zweck sehen kann, dem wird "lauf!" auch beim wiederholten Hören nicht langweilig werden.
Und wer sich freuen kann über etwas noch nicht tausendmal so ähnlich Gehörtes, der sollte unbedingt ein Ohr riskieren.

Mit einfachen Mitteln bringt Baba ganz großes Kopfkino auf die Leinwand hinter der Stirn.
Line-up:
Baba Hail (Gesang, Schlagzeug, Bass)

Gastmusiker:
Lisa Mosinski (Gesang)
Jutta Capallo (Gesang)
Christian Hadersdorfer (Drehleier)
Marina, Kerstin und Chris Klosters, Raffael Sonatore, Lea Schäfer, Linda Spanknebel, Pino u.v.a. (Chor)

Als Sprecher:
Marcus van Langen
Bert Gerecht
Petra Rychetsky
Pino Lea Schäfer
Linda Spanknebel
Katja Block
Jörg Erkelenz
Carol Doyle

Tracklist
01:Das Gesetz
02:Frei sein
03:Kopf ab
04:Nie mehr
05:Flucht
06:Der Ring
07:Lauf!
08:Der Kampf
09:Nefacio (Hymne)
10:Das Versprechen
11:Irgendwo
12:Leben
13:Ai vis lo lop
14:Der Weg (Alléz oh, oh ,oh)
15:Kein blick zurück
16:No more [Bonustrack]

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