Nemo / Barbares
Barbares Spielzeit: 68:11
Medium: CD
Label: Quadrifonic, 2009
Stil: Progressive

Review vom 13.01.2009


Boris Theobald
»Nimm Dir Zeit für gute Musik!« Kaum jemand nimmt sich dieses RockTimes-Motto derart zu Herzen wie wir Progressive-Liebhaber. Unsere Blues- und Glam- und sonstigen Fraktionen werden es mir für den Moment verzeihen. Aber als Proggie lässt man sich doch besonders gern etwas Zeit bis zum Höhepunkt und freut sich überdies auf ein ausgedehntes Vorspiel. Auch die Franzosen von Nemo setzen auf ihrem sechsten Studioalbum den Glanzpunkt am Schluss - mit dem Titeltrack "Barbares".
Dieser dauert 25 Minuten und hat es in sich. Der lange musikalische Weg beginnt mit einer verzerrten Gitarre, die ein hymnisches Thema anspielt, das sich alsbald von einem unaufdringlichen Keyboardteppich unterlegt in ein floydiges, extrem gefühlvolles Solo auflöst. Ein erster, ruhiger Gesangspart folgt; dazu entwickeln sanfte Akustik-Gitarren-Arpeggien Takt für Takt mehr und mehr Eigenleben mit schrittweise einsetzenden brummeligen Bässen und Drums. Eine Flöte übernimmt die Melodiearbeit, und schnell erkennt man das wunderschöne Anfangsthema wieder.
Schon jetzt erinnert mich die Atmosphäre ansatzweise an "The Trees" von Rush. Nach einem kurzen Break setzt wieder eine verzerrte E-Gitarre ein. Dieses Mal erdiger und dunkel, sehr präsent, und abermals denke ich an Alex Lifeson, an die satte Tonfülle und gleichzeitige melodiöse Leichtigkeit von Stücken wie "Limelight". Eben diese Gitarre spielt ein neues Riff an, eine Klaviermelodie kommt hinzu. Wehmütig bis dramatisch, zeitweise an neuere Fates Warning erinnernd, entwickeln sich die Melodien, begleiten das immer wieder auftauchende Hauptthema oder drängen sich selbst in den Vordergrund. Die Atmosphären verdichten sich und lösen sich auf in einem stampfenden, tonnenschweren Heavy-Metal-Riff. Dazu der fesselnd unterkühlt wirkende Gesang:
»Nous barbares... n'avons rien appris de vingt siècles d'histoire...«

Barbaren sind wir, haben aus zwanzig Jahrhunderten Geschichte nichts gelernt... das ist die Kernaussage dieses Stücks. Auf dem CD-Cover sitzt ein trauriges Mädchen mit zerzaustem Haar und schmutziger Kleidung, während im Hintergrund der Krieg tobt - Soldaten, Panzer, eine Stadt in Trümmern. Wir sind eben moderne Barbaren. Auf dem halben Globus schlagen wir uns immer noch gegenseitig die Köpfe ein...
Es folgen wieder viele Minuten ohne Gesang, dafür mit einem sensationellen Ideen-Feuerwerk. Die Dynamik nimmt sprunghaft zu, Gitarre und Keyboard wechseln sich als Melodie- und Begleitinstrument ab, spielen halsbrecherische Parallelbewegungen und im nächsten Moment wieder genial gegeneinander laufende Melodien im Stile von Klassiker-Longtracks von Kansas. Der rhythmische Unterbau von Schlagzeug und Bass treibt kontinuierlich an. Die Halbwertzeit der Rhythmen beträgt höchstens ein paar Takte. Und jeder Wechsel vom 3/4 in 9/8 oder 7/8 in 4/4 gelingt butterweich, während die traumhaft schönen Melodien weiter gesponnen werden. Das ist Musik für Auserwählte, komponiert mit Köpfchen und Bauchgefühl...
So schnell sich dramatische Verdichtungen aufbauen, so rasch verpufft alle Anspannung in einem absoluten Break. Minimalistische Akustikpassagen deuten das Anfangsthema an, bevor sich erneut eine lebhafte, positive Flötenmelodie aufbaut. Die Unbeschwertheit weicht durch das abermalige Auftreten des Anfangsthemas, gedoppelt, mit zwei Gitarren - raumfüllend, Ehrfurcht erregend. Diese Hookline hat eine geniale Eigenschaft - sie kann Zuversicht ausstrahlen, sie kann aber auch bedrohlich wirken. Alle Facetten spielt die Band gekonnt aus - die leichtfüßig anmutende Flöte über einer Akustikgitarre, die gedoppelte E-Gitarre zu schleppenden Heavy-Riffs.
Nach 21 Minuten endet das musikalische Schauspiel scheinbar in einem allmählich erstarrenden Bombast. Doch es folgt ein Epilog: lyrisches Klavierspiel, kurze Verdichtung und wortloser Gesang, eine entfernte Solo-Gitarre mit dieser Melodie, der ganz am Schluss das Leben zu entweichen scheint. Die CD ist aus, doch die anschließende Stille scheint irgendwie noch dazuzugehören.
Es ist der Titelsong, der den prägendsten Eindruck hinterlässt und die weiteren fünf Stücke überstrahlt, obwohl sie nicht übel sind. Zwischen knapp sieben und rund zehn Minuten dauern die Songs, die in sich auch schon wieder kleine Epen sind. Verspielt und voller Details präsentieren sie technisch gutes Liedgut auf dem Grat zwischen Prog Rock und Prog Metal, auf dem sich beispielsweise auch Enchant bewegen. Auch groovende Dream Theater-Stücke wie "New Millennium" oder "Lines In The Sand" und ausschweifender Prog Rock à la Spock's Beard oder The Flower Kings kommt einem in den Sinn.
Beim nachdenklichen "Le film de ma vie" könnte teilweise Rushs "Jacob's Ladder" Pate gestanden haben. "L'armée des ombres" überrascht mit einem funky Orgel- und Bass-Groove als Intro für ziemlich abgedrehten, hypnotischen Bombast mit ausgedehnter Solo-Schau. Rasche Wechsel zwischen schweren Gitarren und introvertierten, zerbrechlichen Momenten und der allgemeine Hang zur Experimentierfreudigkeit erinnern immer mal wieder an Bands wie Pain Of Salvation, Porcupine Tree oder Galahad. Nur eines gibt es zu bemängeln: Da man sich aufs Epische konzentriert, fehlt der ein oder andere Refrain mit akustischem Widerhaken, der so im Ohr bleibt wie das Hauptthema des Titelsongs.
Bei all den Referenzen muss man doch konstatieren, dass Nemo sich absolut keinen Ideenklau zu Schulden haben kommen lassen. Wer Lust hat auf intelligent gemachten und absolut sauber produzierten Prog Rock mit Grenzüberschreitungen ins Land des Heavy Metal hat, der sollte Nemo unbedingt antesten. Es wird zu keiner Minute langweilig und in den letzten 25 Minuten sogar extrem aufregend - der Titeltrack verdient den Grammy in der Kategorie Progressive Rock. Ich träume weiter - und höre dabei "Barbares"...
Line-up:
Guillaume Fontaine (keyboard, vocals)
Lionel B. Guichard (bass, vocals)
JB Itier (drums, backing vocals)
JP Louveton (guitar, vocals)
Tracklist
01:LDI (9:40)
02:19:59 (6:48)
03:Le film de ma vie (7:36)
04:L'armée des ombres (9:51)
05:Faux semblants (7:40)
06:Barbares (25:32)
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