Dass man es noch erleben darf, brisantes bzw. unveröffentlichtes Studiomaterial eines britischen Prog-Unternehmens jetzt auf zwei Silberlingen präsentiert zu bekommen, welches sich in den letzten Jahren quasi in Luft aufgelöst hatte - oder noch besser gesagt - das seine kreativen Ideen bei dem mittlerweile etablierten Bandprojekt The Tangent auslebt.
Projektchef und musikalischer Regisseur von Parallel Or 90 Degrees, Andy Tillison Diskdrive, verstand es schon seit Anfang der Neunziger, zusammen mit einigen illustren Mitstreitern den Bandnamen programmatisch umzusetzen, und mit seinen teils bizarren Kompositionsauswüchsen, die vom Anarcho Punk bis hin zum 70er-Jahre beträufelten Art Rock reichten, mit aller Konsequenz in hörbare Taten umzusetzen.
Da musste erst das Nebenprojekt bzw. Enfant terrible der Prog Rock-Superstars unter dem Pseudonym The Tangent innerhalb eines Monats für mehr Tonträgerumsatz sorgen, um Tillisons bis dato nur unter Insidern geschätzte Truppe wieder ans Licht zu rücken.
Der steinige und beharrliche Weg von Parallel Or 90 Degrees, deren traurige Geschichte von musikbesessenen Idealisten handelt, die mit dem nötigen Enthusiasmus den Versuchungen der Industrie trotzten, um ihre sehr eigenen, progressiven musikalischen Vorstellungen zu reproduzieren, wird im vorliegenden Booklet sehr unterhaltsam beschrieben. Bandleader Andy Tillison persönlich verfasste mit viel britischem Humor und Sarkasmus die Liner Notes über die Hoffnungen und Enttäuschungen einer sehr britischen Prog-Institution.
Dessen Vorleben mit Parallel Or 90 Degrees kann trotz beständigem Misserfolges auf insgesamt sechs - von Genrekennern hochgeschätzte - Veröffentlichungen zurückgreifen, welche aber allesamt nur bedingt bzw. mittlerweile wohl auch nicht mehr ganz einfach zu bekommen sind.
Diese Situation scheint die Betreiber des rührigen US-Plattenlabels Progrock Records nun wachgerüttelt zu haben, sich dieser einzigartigen Musikerverbindung wieder anzunehmen und als Kompromisslösung den vorliegenden musikalischen Doppelschlag aufzulegen. Mit "A Can Of Worms" bescheren selbige jetzt 15 verborgene Archiv-Schätze dieser derzeit vermutlich auf Eis liegenden Formation, die vom Meister eigenhändig gemastert wurden und neben offiziellem auch reichlich unveröffentlichtes Songmaterial bzw. hörbare Vorstufen Tangent'scher Kompositionen zu offenbaren vermag.
Während der erste Silberling vom bereits veröffentlichten Frühwerk der Herren geprägt ist, entfaltet der zweite für den beflissenen Fan das essenzielle Paradies in Form einer halben Stunde neuen Materials, welches als Album geplant, aber aus gegebenen Gründen nie zum Zuge kam. So vernimmt der Hörer zur Freude oder auch zum Leidwesen die Songs # drei bis fünf der zweiten Scheibe vom unveröffentlichten Werk "A Kick In The Teeth For Civic Pride" und wird dabei den unglaublich gereiften kompositorischen Status der Protagonisten feststellen, die mit gesunder Aggressivität die Botschaft des modernen Prog Rocks mit sehr viel inspirativem Zeitgeist verkünden.
So heben die meist überlangen Stücke dazu an, eine geradezu feierliche Episode in einem sich wahrhaft großzügig, ja elegant verbreitenden Reigen progressiver, nicht immer leichtverdaulicher Exkursionen, die nun endlich auf Rehabilitierung harren, anzurühren.
Bandchef Andy Tillison, der wohl die meisten vorliegenden Kompositionen zu vertreten hat, gab sich nicht nur mit seinem Stimm- und Tasteneinsatz zufrieden, sondern steuerte auch einige Drumloops, Samples und Gitarrenpassagen dazu bei, um der pompösen, verspielten Mischung durchaus klassische Charaktere zu verpassen.
Mit seinen häufig wechselnden Mitstreitern, ausgenommen der treue Weggefährte Sam Baine an den Tasten, beflügelte er die kreativen Elemente und Stilrichtungen immer wieder aufs Neue, welche Hard Rock, Grunge, Trip Hop, Psychedelia und ganz klare Van der Graaf'sche Mosaiksteine in den prallen Arrangements hören lassen.
Tilisons gesangliche und musikalische Ausdrucksformen sind teilweise doch sehr nahe an den großen Peter Hammill angelegt und obliegen einem Fluss von Blues, Trauer und Aggression, lassen den Konsumenten quasi in einem Emotions-Cocktail baden.
Der Mann ist ein begnadeter Songschreiber, weiß seine mit schwarzem Humor gespickten Alltagsbeobachtungen in Worte zu fassen, kopiert dabei zwar nicht Hammill, bedient sich aber mit dem gleichen Maß an Freiheit bei der formalen Ausgestaltung.
Die wenigen künstlichen, aber soliden instrumentalen Momente in Verbindung mit Tillisons atmosphärisch-verschlafenem Gesang - obgleich ihm wohl weniger Lungenvolumen zur Verfügung zu stehen scheint, um wirklich mit den gequälten Timbrevorgaben seines Vorbildes mithalten zu können - vermögen mit der potentiellen Kombination aus dunklen und kraftvollen Spannungsteilen eine musikalische Achterbahnfahrt mit starker Eigennote zu protegieren.
Mit der britischen Perfektion und Begeisterung, mit der hierbei musiziert wird, macht selbst einige künstlerische Längen wieder wett und erteilt sogar dem elektronischen, von einem realen Musiker bedienten Schlagzeug die bedingte Akzeptanz bzw. Absolution.
"A Can Of Worms" bietet geradezu einen repräsentablen Querschnitt aus dem etwas angestaubten Parallel Or 90 Degrees-Fundus - einerseits voll von melancholischem, durch Emerson'scher Tastenarbeit geprägtem Art Rock, angereichert mit hypnotischen Soundscapes, welcher meist unter spontaner Studioatmosphäre entstand - anderseits Einspielungen neueren Datums, die mit mehr Aggressivität und kompromisslosen Saiteneruptionen recht hart gelagert sind und durchaus auch im Wettstreit mit den Überfliegern Porcupine Tree eine gute Figur abgeben würden.
So sind vor allen die Songs von "More Exotic Ways To Die", dem letzten offiziellen Lebenszeichen der Band aus dem Jahr 2001, ein Indiz für ihre Weiterentwicklung, die mit dem radiotauglichen Einstieg "A Man Of Thin Air" mit seinem, vom schweren Orgel- und Gitarrenturnus getragenen Albtraumcharakter, durchaus in die Schemata neuerer Alternative-Progformationen passen würde.
Aber auch Kompositionen wie "Petroleum Addicts" oder "Embalmed In Acid" aus der gleichen Ära vereinen auf wunderbare Weise Komplexitität und Zugänglichkeit, wobei im wahrsten Sinne keine musikalischen Grenzen erhörbar scheinen und sich völlig unkonventionell parallele Linien kreuzen und verknoten.
Die scheinbar unauffälligen, aber in der Tat sehr interessanten Instrumental-Arrangements der Protagonisten sind ständig am fließen, und bestehen meist aus dem vielfältigen bzw. kontrastreichen Zusammenspiel zwischen den metallischen, langsamen Gitarrenriffs und der subversiven, virtuosen Tastensektion.
Außer unveröffentlichen bandeigenen Bonbons gibt es auch eine neu eingespielte Produktion des gefühlsumgarnenden "Blues Of Lear" mit dem The Tangent-Spielgefährten Roine Stolt an der Gitarre zu hören, der eigentlich für deren erstes Album vorgesehen, aber dann doch nicht zur Verwendung kam.
Im Ganzen bekommt der Genrekenner eine gehörige Dosis weihevoller Kompositionen als Luftpolster für die 'Fairness' des Alltags' geboten, und lässt diesen teilweise in psychedelischen Sphären versacken, oder aber bei hochkomplexen Tillison'schen Diktionen solcher prätentiösen Epen wie "Aftercycle" und "Four Egos One War" ins Schwärmen verfallen.
Diese wohl letzte Wiederkehr der Briten, deren Musik man mit Fug und Recht als progressiv benennen darf, weil diese technisch sowohl bei den Madrigalen als auch bei der Avantgarde angesiedelt ist, muss man zweifelsohne zu den sinnvollen Veröffentlichungen im derzeitigen Retro Prog-Wust zählen.
Sieht man einmal von der einzigen, deplazierten Ausffallerscheinung, dem Peter Hamill-Cover "Modern" ab, sollte das entschlackte Parallel Or 90 Degrees-Material nicht nur bei Komplettisten des Genres einen Platz im CD-Regal bekommen. Vielleicht vermag deren Anschaffung auch unbewusst Gutes zu bewirken und bei entsprechenden Verkaufszahlen zu einer Reanimation dieser außergewöhnlichen Prog-Kapelle beitragen.
Tracklist |
CD 1:
01:A Man Of Thin Air
02:The Single
03:Unbranded
04:Modern
05:The Media Pirates
06:Promises Of Life
07:Blues For Lear(with Roine Stolt)
08:Space Junk
09:Petroleum Addicts
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CD 2:
01:Afterlifecycle Sequence (including Dead On A CarPark Floor)
02:Embalmed In Acid
03:Four Egos One War
04:Fadge Part One
05:A Kick In The Teeth
06:Unforgiving Skies
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