Es war ein nebelverhangener Abend in der Baker Street. Mein Freund Sherlock Holmes saß versonnen in seinem abgeschabten Sessel und verfolgte mit scharfen Blicken die dröge zur Decke aufsteigenden Rauchschwaden, die von seiner geliebten Meerschaumpfeife in dichten Kringeln empor schwebten.
»Mein lieber Watson«, unterbrach der Meisterdetektiv schließlich das Schweigen, »hat sich in meiner Abwesenheit etwas Bedeutsames zugetragen?«
»Nun, Holmes, vor etwa einer Stunde brachte ein Bote diese Depesche!«, antwortete ich und hielt Holmes einen Brief hin, »Sie ist als 'vertraulich' gekennzeichnet.«
»Vertraulich? Vielleicht endlich wieder einmal ein Fall, der meiner würdig ist!«
Mein Freund hatte Mühe, die erwartungsvolle Vorfreude im Zaum zu halten, als er das Siegel des Schreibens brach. Für die nächsten Minuten war neben Holmes' rasselndem Atem, der auf neuerlichen Kokaingenuss in Verbindung mit exotischen Tabakfreuden schließen ließ, und dem Rascheln des Papiers nichts zu hören. Nach wenigen Minuten legte mein Freund die Depesche beiseite und das Glitzern in seinen Augen zeigte, dass der Brief endlich den lange ersehnten, wirklich seine Fähigkeiten erfordernden Auftrag enthielt, auf den mein genialer Freund so lange gehofft hatte.
»Nun spannt mich doch nicht länger auf die Folter, Holmes. Dass die Depesche aus Übersee stammt, war schon dem Absender zu entnehmen. Doch worum handelt es sich?«
»Ein gewisser Mister Surkamp schrieb mir, ein außergewöhnlicher Geigenvirtuose werde vermisst«, begann Holmes in gewohnter Manier, die Tatsachen kühl zusammenzufassen, »Bei dem Virtuosen handelt es sich um niemand geringeren als Sigfried Carver!«
Erstaunt hob ich den Blick und sah meinem Freund geradewegs in die Augen. Das Verschwinden des Musikers hatte die internationale Musikwelt in große Verwirrung gestürzt. Dass Holmes, selbst ein veritabler Meister auf der Violine, in dieser Angelegenheit eine wahre Herausforderung sah, lag auf der Hand.
»Carver? Ich erinnere mich. Der Rolling Stone hatte sogar eine Suchanzeige geschaltet. Wenn ich mich nicht irre, Holmes, war der Mann Teil eines außergewöhnlichen Musikensembles, das just unter der Ägide dieses Herrn Surkamp stand, der ihnen nun dieses Hilfsgesuch zusandte.«
»So ist es, mein lieber Watson. Wissen Sie Näheres über diese Gruppe von Musikern? Sie verzeihen sicher meine Unwissenheit, aber Sie kennen mich. Meine feuilletonistische Freude widmet sich vor allem der Werke klassischer Meister. In den Niederungen der Populärkultur sind wohl eher Sie zu Hause!«
Ich hatte große Mühe, meine diebische Freude zu verbergen: Der große, geniale Sherlock Holmes musste eingestehen, auf einem Felde kein Fachmann zu sein. Vielmehr noch: Er fragte gar mich, mein Hintergrundwissen vorzubringen. Mit einem genießerischen Seufzer lehnte ich mich zurück und begann, zu berichten:
Sie galten als eine der großen Hoffnungen der Rockwelt Anfang der siebziger Jahre. Bereits ihr Debütalbum "Pampered Menial" verzückte Fans und Kritiker gleichermaßen. Die atemberaubende Virtuosität der beteiligten Musiker, ihr ungemein dichtes Zusammenspiel, vereint mit einer der ungewöhnlichsten Männerstimmen des Business machten die Faszination von Pavlov's Dog aus. Da fetzten Gitarre und Geige um die Wette, die Hammond wummerte powervoll zum Beat von Drums und dem fast schon funkigen 'Wumms' der Basslinien. Und über all dem lag eine Stimme, als hätte die große Janis Joplin ein Comeback nach einer Geschlechtsumwandlung gehabt. Die zarte Ballade "Julia's Song" war ein respektabler Singleerfolg und ist bis heute ein richtiger Radiohit mit häufigem Airplay.
Und welchen Tribut zollt ein derart umjubeltes Debutalbum? Richtig - die Forderung der Plattenbranche nach einem Follow-up. Guter Dinge ging die Band ins Studio und begann mit den Arbeiten zu "At The Sound Of The Bell" - der Klang war immer noch wuchtig, der Kick war noch da, aber die Geschlossenheit des Erstlings konnte nicht so ganz erreicht werden. Kein Wunder - bereits bei den Aufnahmesessions kriselte es in der Combo. In der Folge verließ Geigenvirtuose Sigfried Carver die Band.
Sein charakteristisches Spiel galt als derart typisch für den Gruppenklang, dass der Titel des dritten Albums "Has Anyone Here Seen Sigfried?" wohl ein verzweifelter Joke sein sollte. Und gerade dieses dritte Werk des musikalischen Laborhundes galt lange Zeit als eines der mysteriösesten Stücke der Popgeschichte. Wegen zu geringer Verkaufszahlen von "At The Sound Of The Bell" verweigerte CBS anno '77 die Veröffentlichung der Scheibe. Man überreichte Sänger David Surkamp einen Cassettenmitschnitt der fertigen Platte - und 'tschüss!'
Die Gruppe tourte weiter, doch ohne großen Erfolg und löste sich schließlich 1977 auf. Es gab, vor allem in Europa, die wildesten Gerüchte über den Verbleib der Gruppe. Mutmaßungen über Surkamps Tod machten die Runde, doch zum Glück erwies sich das Gegenteil als die Wahrheit. Es gab einige halboffizielle und bootleggerische Releases von "Has Anyone here Seen Sigfried?", die allerdings von mehrfach gezogenen Cassettenkopien angefertigt wurden und auch entsprechend klangen.
Als Surkamp im neuen Millenium die Band reaktivierte, gab er selbst im Jahre 2007 eine CD-Veröffentlichung der obskuren Songs heraus, versehen mit mehreren Bonustracks. Allerdings musste auch der Meister selbst als Klangquelle auf die alte Cassette zurückgreifen, denn die originalen Mastertapes, sowie das bereits fertig gestylte Cover galten als verschollen.
Doch was lange währt, wird endlich gut: Sowohl die originalen Bänder und das Artwork tauchten jüngst in den Tiefen des Columbia-Archivs wieder auf und so kann die Scheibe mit einer läppischen Verspätung von gerade mal 37 Jahren in der geplanten, ursprünglichen Form und guter Klangqualität zugänglich gemacht werden.
Holmes runzelte ob meines Abschweifens in den jugendlichen Slang aus der Welt der Rockmusik zunächst die Stirn, doch dann konstatierte er:
»Faszinierend, mein lieber Watson. Telegraphieren sie umgehend an Mister Surkamp. Wir werden nach Amerika fahren und die Suche fortführen!« Gesagt, getan: augenblicklich begann er damit, sein Reisegepäck fertigzumachen. Während er noch versuchte, seine Tabaksdose zwischen seiner Ausrüstung zu verstauen, meinte er, zu mir gewandt: »Könnten wir nicht einmal der Musik dieses Ensembles lauschen? Ich möchte ein möglichst umfassendes Bild der Angelegenheit erhalten!«
Und so legte ich das betreffende Werk der amerikanischen Rockmusiker in unser altes Grammophon. Holmes' Augenbrauen hoben sich erneut.
»Wie schätzen sie dieses Opus ein, Watson?«
»Nun«, begann ich, »zunächst einmal muss festgestellt werden, dass es sich bei den Songs auf "Has Anyone Here Seen Sigfried" um erstklassiges Rockmaterial handelt. In Intensität und Power unterscheiden sich die Songs aber signifikant von ihren Vorgängerwerken. Ekstatische Gefühlsausbrüche wie in "She Came Shining" oder die Power eines "Natchez Train" wird man auf diesem Album nicht unbedingt vorfinden. Waren "Pampered Menial" und "At The Sound Of The Bell" zeitweise eine dichte, schicksalschwangere Stimmung zu eigen, sind viele Stücke der dritten Scheibe schon fast als 'locker-flockig' zu bezeichnen. Sicher verbreiten Surkamp und Co. auch hier wieder gepflegte Melancholie, widmen sich insgesamt aber verstärkt den sonnigen Seiten des Lebens. Wie weit dieser Stilwandel der Abwesenheit Carvers geschuldet ist, oder ob er eher auf das Konto einiger Kollegen von Steely Dan geht, die an der Produktion beteiligt waren, kann letztlich nur Gegenstand von Spekulationen sein. Dass der Sound von Pavlov's Dog doch unverwechselbar blieb, lag nicht zuletzt an Surkamps einzigartiger Stimme. Sein ausdrucksstarkes Sangesorgan findet für jede Grundstimmung den richtigen Ton. Er moduliert dabei so feinfühlig, dass er jedes Gefühl, das vermittelt werden soll, bis zum Exzess steigern kann. Ein Song, der bei manch anderem Kollegen eben nur etwas melancholisch-verträumt wirken würde, kann von Surkamp bis zum musikalischem Nervenzusammenbruch vorwärts gepeitscht werden. Glücklicherweise trifft dies auch für die positiven Gefühle zu, und somit ist "Has Anyone Here Seen Sigfried" auch ein Panoptikum großer Emotionen.«
Wer eine ausführlichere Analyse der musikalischen Qualitäten wünscht, sei auf die Rezension von Joachim 'Joe' Brookes hingewiesen, der im Jahre 2007 bereits das erste legale Release dieser CD besprach. Dem ist nichts hinzuzufügen. Die Neuauflage unterscheidet sich vor allem in zweierlei Hinsicht von der zuletzt genannten: Da die Tracks von den originalen Mastertapes überspielt und remastert werden konnten, ist ein wesentlich besserer Klang selbstverständlich. Auch die Auswahl des Bonusmaterials zeigt weitere Facetten von Pavlov's Dog. Die Aufnahmen sind allesamt jüngeren Datums und zeigen die derzeitige Liveband in Aktion. Da die Spielzeit der CD fast vollständig ausgeschöpft wird, lohnt sich schon allein wegen dieser Liveaufnahmen der Neukauf der Scheibe für all jene, die bereits anno 2007 zugegriffen hatten. Die Intensität der alten Songs wird auch im Konzert mühelos erreicht. Wie Surkamp es schaffte, seine markanten Vocals auf solch hohem Niveau zu halten, ohne seine Stimmbänder klonen zu lassen, wird wohl sein Geheimnis bleiben.
»Vielen Dank, mein bester Watson!«, bremste mich mein werter Freund. Er hatte seinen Koffer fertig gepackt und warf sich bereits seinen karierten Mantel über. Wir machten uns auf den Weg nach Übersee. Und obwohl der Meisterdetektiv im Laufe seiner Ermittlungen tatsächlich begann, sich für Rockmusik zu interessieren, sollte diese Affäre doch als einer der wenigen ungelösten Fälle in die Annalen von Sherlock Holmes eingehen. Sigfried Carver konnte nicht aufgespürt werden. Sein Verbleib ist bis heute eines der großen Mysterien der Rockgeschichte. Etwas beschämt müssen wir zugeben, dass ein gewisser Jerry Cotton das Geheimnis doch noch lüften konnte: Nach seinem Ausscheiden aus der bunten Rockwelt lebte der frühere Violinist Carver unter seinem eigentlichen Namen Richard Nadler, wurde politischer Aktivist und verstarb im Jahre 2009 im Alter von 60 Jahren. Dass man meinem Freund und mir allerdings ein Denkmal setzte, indem die Hülle der veröffentlichten Klangscheibe ein Bild ziert, das meinen Freund Sherlock Holmes und mich bei den Ermittlungen auf dem Columbia-Gelände zeigt, kann den großen Ermittler nicht von der Erinnerung an die Schmach befreien.
Dennoch bleibt festzuhalten: Dass dieses obskure, lange verschollene Kabinettstückchen amerikanischen Progressivrocks endlich in angemessener Klangqualität erhältlich ist, kann man nur begrüßen. Im Booklet erzählt David Surkamp höchstselbst die bemerkenswerte Geschichte von "Has Anyone Here Seen Sigfried?" In jedem Falle stellt die Story einen sehr lesenswerten Insiderbericht dar, auch, wenn auf die Untersuchungen des großen Detektivs aus London mit keiner Silbe eingegangen wird.
Dieser jedoch hat bei der Beschäftigung mit der Welt des Rock durchaus Blut geleckt. Derzeit versucht er, Fakten in der Angelegenheit 'Paul is dead' zu eruieren. Meine Wenigkeit jedoch genießt nach wie vor gerne des Abends am Kamin das musikalische Schaffen von Pavlov's Dog!
Line-up:
David Surkamp (vocals)
Douglas Rayburn (melotron, piano)
Rick Stockton (bass)
Kirk Sarkisian (drums)
Tom Nickeson (keyboards, piano)
Steve Scorfina (guitar)
Tracklist |
01:Good Bye Trafalgar
02:Falling In Love
03:Only You
04:Painted Ladies
05:I Love You Still
06:Jenny
07:Today
08:Stop Short (original outtake)*
09:It's All For You
10:Suicide
11:While You Were Out
12:Falling In Love (alternative mix)*
13:Julia (David Surkamp acoustic version 2007)*
14:She Came Shining (live 2012)*
15:Fast Gun (live 2011)*
16:She Breaks Like A Morning Sky (live 2011)*
17:Paris (live 2011)*
18:Good Bye Trafalgar (live 2012)*
19:Only You (live 2012*)
* Bonus Tracks
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