2004 traf mich der Blitz. Aus heiterem Himmel. Unverhofft und mit voller Wucht schlug zu jener Zeit eine Band in meinem Leben ein, deren viel umjubeltes Debütalbum " Ten schon 13 Jahre zuvor veröffentlicht wurde. Kamen der Grunge-Rummel und dessen Druckwelle erst so viel später bei mir an? Bin ich ein musikalischer Spätzünder? Vielleicht. Doch 1991 konnte ich als junger Spund im Alter von 10 zarten Lenzen mit Pearl Jam und ihrem großartigen Erstlingswerk herzlich wenig anfangen; ich war wohl damals noch nicht reif für ihre Musik. Songs wie "Jeremy", "Alive" oder "Even Flow" klangen für mich musikalischen Grünschnabel zu erwachsen, zu komplex und Lichtjahre von meinen damaligen Hörgewohnheiten entfernt. Seinerzeit gehörte ich eher zu denen, die lieber dem vermeintlich 'einfacheren' Grunge von Nirvana lauschten. Erst mehr als eine Dekade und unzählige Umwälzungen in der Musiklandschaft später entdeckte ich dann 2004 durch den spontanen Kauf der Doppel-Best-Of "Rearview Mirror" Pearl Jam schließlich für mich - und verliebte mich sofort unsterblich in ihre Musik. Ich war wahrhaftig wie vom Blitz getroffen. Selten zuvor - geschweige denn danach - war ich derartig überwältigt und dergleichen ergriffen von einer Musik wie dieser. Mit 23 Jahren fand ich erstaunlicherweise sofort Zugang zu ihrer Musik. Denn wer sich dem Musikphänomen Pearl Jam nähern will, muss sich zunächst auf relativ sperrige Songstrukturen einstellen. Doch wer sich wirklich darauf einlässt, wird mit unvergleichlichen Hörgenüssen belohnt. Versprochen.
Nun sind Pearl Jam ja bekanntlich die einzige bis heute dauerhaft bestehende Seattle-Band besagter Grunge-Welle ( Soundgarden sowie Alice In Chains hatten sich zwischenzeitlich aufgelöst und wurden vor wenigen Jahren wiederbelebt), und das liegt vor allem daran, dass diese Gruppe viel mehr kann als nur Grunge. Seit jeher bietet ihr anspruchsvolles Klangspektrum eine breite Fächerung unterschiedlichster Stile, wobei man sagen muss: Pearl Jam sind ein eigener Stil.
Dank ihrer musikalischen Vielschichtigkeit, Unabhängigkeit, Authentizität und vor allem dank ihrer Seele haben Pearl Jam seit mehr als zwei Jahrzehnten eine immens treue und nicht minder große Fangemeinde, die ihnen wie ein Tross auf ihren Touren rund um den Globus folgt. Womöglich liegt das auch daran, dass sich die Herren Eddie Vedder, Matt Cameron (der übrigens auch bei Soundgarden an den Drums sitzt), Stone Gossard, Mike McCready und Jeff Ament über die Jahre hinweg ihre musikalische Sperrigkeit bewahrt haben. Denn so abwechslungsreich und heterogen das brandneue Album "Lightning Bolt" auch wieder gelungen sein mag, so herrlich verweigernd ist nach wie vor ihr Stil.
Dabei ließ das himmlisch-elegische "Sirens", die zweite Singleauskopplung nach "Mind Your Manners", zunächst massentaugliche Eingängigkeit befürchten. Beim ersten Hören erfasste mich sogar eine Art beklemmendes Erstaunen. Während der schlichten Cadd9/A-Moll-Figur im Intro fragte ich mich: »Sind die Mannen um Eddie Vedder mittlerweile wirklich so alt, dass sie anschmiegsamen Schmalz-Pop spielen?« Moment! Halte inne und lausche, du Frevler! Der Liebeserklärung "Sirens" wohnt eine pausenlose Steigerung inne; sie ist das vertonte Flehen nach Beständigkeit trotz des Wissens, dass alles vergänglich ist. Freilich beginnt "Sirens" leicht altersmilde, jedoch entfaltet sich dieses Stück wie eine kräftig leuchtende Blume zu einer dieser typischen zeitlosen Pearl Jam-Hymnen, die einem einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen wollen. Einmal mehr beweisen diese fünf Herren, welch ungeheure Lebenskraft in den x-Mal gehörten Grundakkorden steckt. Ich nehme selten solche Worte in den Mund, aber hier ist es durchaus gerechtfertigt: Das ist göttlich, mindestens überirdisch.
"Lightning Bolt" wurde erneut von dem legendären Produzenten Brendan O'Brien ( Korn, Limp Bizkit, Rage Against The Machine, Bob Dylan, Aerosmith) abgemischt, mit dem Vedder & Co. bereits bei den Scheiben "VS." (1993), "Vitalogy" (1994), "Yield" (1998) und "Backspacer" (2009) zusammen gearbeitet haben. Und ein weiteres Mal haben sie gemeinsam ein Meisterwerk kreiert, denn…
Eddie Vedder hat mit seinem einzigartigen Timbre, das stets die Songs mit einfühlsamen bis anklagenden Facetten trägt, und mit seiner ausgeklügelt tiefsinnigen Lyrik der am Abgrund taumelnden Welt noch immer sehr viel an den Kopf zu werfen. Paradoxerweise zeugt jedoch gleich der unfassbar groovig-rockige Opener "Getaway" sowohl musikalisch als auch textlich von einer neu gefundenen Ausgeglichenheit - Vedder hat hörbar einen Teilfrieden geschlossen, mit sich und seiner ablehnenden Haltung gegenüber den Religionen. Doch er stellt im selben Atemzug unmissverständlich klar: »I got my own way to believe […] Mine ist mine and yours won't take its place.«
Das wüst-schrammelige "Mind Your Manners" dagegen ist eine punkige Kreuzung, quasi ein rotzfrecher Nachfahre von "Brain Of J" (vom Album "Yield") und "Animal" (auf "VS." vertreten). "My Father's Son" ist eines dieser bereits erwähnten sperrigen Stücke: Wie bei einer Hetzjagd verfolgen der unheimlich drängende Refrain sowie die trügerische Bridge einen bis tief in die Träume und entwickeln mit jedem weiteren Hören eine Anziehungskraft wie ein Schwarzes Loch. Ähnlich verhält es sich bei dem unentschlossen hin und her hechelnden Titeltrack "Lightning Bolt" (inklusive elektronischer Schnipsel) und dem nach Aufbruch riechenden Rundumschlag "Swallowed Whole" (diese Lyrics!). Eine rhythmische Meisterleistung gelingt mit dem im Stakkato trottenden Melancholiebass von "Infallible", der unverblümten Anklage an die überheblich-paranoide Gesinnung Amerikas, sich als Nation mit Ausnahmestellung zu sehen.
Das symbiotische Bass-Schlagzeug-Gewebe von "Pendulum" erzeugt eine mystisch-fragile Atmosphäre, derentwegen ich mich abermals in die Musik Pearl Jams verlieben könnte. Im wuchtigen Blues Rock-Stampfer "Let The Records Play", gleichzeitig eine rohe Hommage auf den 68er Southern Country Rock, fährt Mike McCready das genialste Solo des Albums auf.
Zu süßlichen Countryklängen und einer zarten Ukulele-Bridge tänzelt mit "Sleeping By Myself" eine weitere Ballade in elegischer Sanftheit durch den Raum, ohne in den nah benachbarten Kitsch abzudriften. "Future Days" ist ein rundum positiver Albumausklang, der aus tollen Klavier-, Geigen- und Gitarrenfiguren aufgebaut ist.
"Lightning Bolt" ist Pearl Jam in Perfektion. Ein eigener Klangkosmos, dessen Grundelemente aus Alternative Rock, Grunge, Punk, Folk und Blues Rock bestehen. Ein verschachteltes Album, das viele Hörgeschenke bereitet hält, die entdeckt werden wollen. Wir alle werden nicht jünger. Auch diese fünf Vollblutmusiker werden altersmilde und ausgeglichener, während sie ihren Prinzipien treu bleiben. Pearl Jams Musik ist wie ein alter Freund, den man jahrelang nicht gesehen hat, doch bei dem man sich immer wie zuhause fühlt. Oder wie ein Wein, der über die Jahre reift und umso besser schmeckt, je älter er wird.
Line-up:
Eddie Vedder (vocals, guitar, ukulele)
Mike McCready (guitar, six-string bass)
Matt Cameron (drums, percussion, vocals)
Stone Gossard (guitar, bongo drums)
Jeff Ament (bass, keys)
Brendan O'Brian (keys, guitar)
Kenneth "Boom" Gaspar (keys)
Ann Marie Simpson (violin)
Tracklist |
01:Getaway
02:Mind Your Manners
03:My Father's Son
04:Sirens
05:Lightning Bolt
06:Infallible
07:Pendulum
08:Swallowed Whole
09:Let The Records Play
10:Sleeping By Myself
11:Yellow Moon
12:Future Days
|
|
Externe Links:
|