Wenn man sich heutzutage intensiver in die Annalen der englischen Rockmusik begibt bzw. etwas ausführlicher nachliest, dann waren viele der heute so großen Namen wie The Rolling Stones oder The Who (von den Beatles gar nicht erst zu reden) eigentlich gar nicht die größten Bürgerschrecke. Diesen Titel hatten sich nämlich (auf, vor, hinter und neben der Bühne, morgens, nachmittags, abends und nachts) The Pretty Things felsenfest gesichert. Die längsten Haare, die wildeste Liveshow, scheinbar durchgeknallte Bandmitglieder und ein offensichtlich äußerst durchgeknallter Drummer ( Viv Prince) verursachten einen Aufschrei in der älteren (scheinbar so ganz furchtbar erwachsenen) englischen Bevölkerung in der Mitte der sechziger Jahre.
Bis in die Hälfte der Siebziger wurde auch fleißig Album auf Album veröffentlicht, bis es danach nur noch zu sporadischen Releases kam. Dann stand auch mal eine sehr große Lücke an, bis 1999 die Scheibe "... Rage Before Beauty" erschien, die den Verfasser dieser Zeilen damals nicht nur überzeugen konnte, sondern ihn sogar dazu anstachelte, sich den gesamten Backkatalog der Engländer zuzulegen. Leider durch die Lappen ging mir das letzte Studioalbum Balboa Island, das meinem ehemaligen Kollegen Jürgen Berking sehr gut gefiel.
Aber genug von der Vergangenheit, denn dahinter braucht sich die Band um die verbliebenen Originalmitglieder Phil May (vocals) und Dick Taylor (guitars) wahrlich nicht zu verstecken, wie nicht nur die Konzerte der letzten Jahre, sondern auch die neue Platte beweisen. Gemäß den Liner Notes der neuen Platte sind ca. 90% des enthaltenen Materials live im Studio entstanden, lediglich ein paar Background Vocals sowie kleinere Ausbesserungen beim Lead-Gesang und den Gitarren waren notwendig, um dieses ganz feine Rockalbum einzutüten. Und genau das hört man der Scheibe auch auf sehr positive Art und Weise an, denn sie lebt, atmet, wackelt und hat Luft nach allen Himmelsrichtungen.
Es wäre aufgesetzt gewesen, hätten die fünf Musiker ein Album abgeliefert, das sich wie aus den Sechzigern oder Siebzigern anhört, weshalb die vorliegenden zehn Songs u. a. auch nicht mehr alles ins Schutt und Asche reißen, was sich ihnen in den Weg stellt. Aber die Tracks zeugen von einer ungeheuren Kraft, einer unumstößlichen Power, die aus dem tieferen Innern zu kommen scheint. "The Same Sun" behandelt die verschiedenen seelischen Verfassungen, mit denen wohl jeder in diesem Leben so zu kämpfen hat (von himmelhoch jauchzend bis sprichwörtlich am Boden zerstört). So dermaßen unterschiedlich, obwohl man sich permanent im selben Körper und unter derselben Sonne befindet. Herrlich, selbst wenn die Thematik dem einen oder anderen vielleicht als alter Hut vorkommen mag!
Knackige Rocker werden natürlich auch nicht ausgelassen, wofür hier mal das Sky Saxon-Cover "You Took Me By Surprise" genannt sein soll. Sehr atmosphärisch und mit unheimlich viel Feeling kommen die eher nachdenklichen "Dark Days" (mit flächendeckenden, dem ganzen das Gefühl eines Kurzfilms verleihenden, Keyboards) sowie "Hell, Here And Nowhere", die ihre ganz eigene Qualität haben. Auf dem Instrmental "Greenwood Tree" bekommt der Schlagzeuger Jack Greenwood sogar ein Solo und der zweite Track ohne (eigentlichen) Gesang ist eine feine Komposition von Dick Taylor.
Der heimliche Hit der neuen Scheibe ist allerdings die Neuauflage von "Turn My Head", das The Pretty Things bereits in den Sechzigern zum Besten gaben. Trotzdem eine geile Rock'n'Roll-Nummer mit richtig starken Gesangslinien. Dass die alten Recken nach wie vor für Überraschungen gut sind, zeigt sich durch das Cover des The Byrds-Songs "Renaissance Fair". Vielleicht nicht die größte Tat auf der neuen Langrille, trotzdem cool und erst recht kein Ausfall.
Dass die Engländer ihren Humor bzw. ihre Selbstironie nicht verloren haben, zeigt sich auch im Albumtitel, der gemäß des fortgeschrittenen Alters der Originalmitglieder mit zugekniffenem Auge suggeriert, dass - während wir uns abends oder nachts die Songs anhören - »die süßen Pretty Things bereits im Bettchen sind... ganz bestimmt...«.
Ein Wort noch zu dem Sänger Phil May, der bei Aufzählungen großartiger Sänger und Frontmänner der letzten Jahrzehnte immer wieder sträflich zu kurz kommt: Er hat sie immer noch, diese Magie in der Stimme! Wer sie bisher nicht erkannt hat (genau wie die seines Leidesgenossen Phil Mogg von UFO), der wird sie wahrscheinlich auch nie mehr finden. Aber sie ist da (u. a. bei "Dirty Song"), nach wie vor. Anders vielleicht, dafür aber auch mit neuer Qualität gesegnet.
Aber was rede ich lange um den heißen Brei? Auf dem hier von mir ausgestellten Rezept steht ganz klar und deutlich zu lesen: "The Sweet Pretty Things (Are In Bed Now, Of Course...)" auf den Einkaufszettel schreiben und schnellstmöglich nach Hause bringen. Es lohnt sich!
Line-up:
Phil May (maraccas, lead vocals)
Dick Taylor (lead guitars, background vocals)
Frank Holland (lead guitars, mellotron, background vocals)
George Woosey (bass, rhythm guitars, background vocals)
Jack Greenwood (drums & percussion, background vocals)
With:
Nick Brockway (Hammond organ)
Mark St. John (percussion, background vocals)
Tracklist |
01:The Same Sun
02:And I Do
03:Renaissance Fair
04:You Took Me By Surprise
05:Turn My Head
06:Dark Days
07:Greenwood Tree
08:Hell, Here And Nowhere
09:In The Soukh
10:Dirty Song
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