"Hatte ich dich nicht gebeten im Auto zu warten" - diesen Plattentitel hatte Michy Reincke bereits anlässlich der letzten Tournee angekündigt. Sein neuestes Album mit diesem ungewöhnlichen Titel... ein Titel, der, wenn man in der deutschen Musiklandschaft vergleicht, so ungewöhnlich ist wie die Musik, die Reincke auf seinem neuen Longplayer abliefert. Selbst wenn sie gut zugänglich ist, so weht doch immer ein Hauch des Besonderen über den Texten, die in die mittlerweile für den Hamburger typische Musik verpackt worden sind. Dabei wartet er gleich zu Beginn mit einer Überraschung auf, denn "Steh auf & scheine" ist in einen sehr souligen Groove verpackt - eine Stimmung, die ihm ebenfalls sehr gut steht. Ja, da schwebt doch tatsächlich ein wenig Motown durch den Raum. Doch auch einige andere Feinheiten im Arrangement würzen diesen Song auf ganz besondere Weise - ein interessanter Auftakt!
Und schon bin ich mitten in einem meiner Lieblingssongs der Platte, wenn der lange Titel "Ich will die Sache nicht unnötig in die Länge ziehen" Musik präsentiert, die unglaublich schön und harmonisch ist. Herrlich, dieser Gitarrensound, der ganz gewaltig nach Westcoast, nach den Byrds und Tom Petty klingt, aber eben mit diesem, dem Künstler ganz eigenen Verständnis von Harmonie versehen - ein Topsong, ein echter Hit! Und ein Text, der nachdenklich macht, hört mal genau hin... Nicht nur hier wird mit viel Wortwitz gearbeitet. Dazu gibt es auch immer wieder die typische 'Schlitzohrigkeit', die ihn in der Summe der einzelnen Komponenten so einzigartig macht.
So bietet uns Michy Reincke erneut deutsche Popmusik der ganz besonderen Art. Er versteht es mittlerweile, eine Spitzenposition einzunehmen, denn ich halte die Musik dieser Platte wieder für einzigartig im Meer der deutschsprachigen Musik.
Schade ist es nur, dass es noch immer so wenig bemerkt wird. Diese Gelassenheit im Vortrag, diese lockere Art, Anspruch auf leichtgängige Weise zu präsentieren, zwingt zum Zuhören, zwingt zum Lesen der beigefügten Texte, zur Auseinandersetzung damit, um dann zu bemerken, wie stark Reincke seine Philosophie in klarer Sprache pointiert zur Sprache bringt. Aber auch solche alltäglichen Dinge, wie sie Liebesliedern gemein sind, verpackt er in schöne und lyrische Texte: "Deine Augen genügen", hier lesen wir unter anderem »Ich verschwand in ihren großen ägyptischen Augen ohne zu wissen, ob & wann man da wieder raus kommt. Ich sah sie reden & nickte, doch ich hörte nicht zu & sie fragte mich: >Woran denkst du?< & ich dachte >Wenn du wüsstest!< aber ich sagte nur: >An
nichts Bestimmtes.< & dann sah sie mich so an & ich sagte ohne zu lügen: >Deine Augen genügen.<.« Er trägt solche Texte inklusive der Musik mit großer Gelassenheit, Intelligenz und Überzeugung vor, dass man eigentlich schon fast sicher sein kann, dass in ihnen sehr viel Autobiografisches stecken muss.
Musikalisch erfahren wir auf der neuen Platte eine gelungene Mischung aus Zutaten von Westcoast, popbetontem Rock, Soul und einiges an Elementen von Bob Dylan. Dazu gibt es gelegentlich in den Arrangements, wie bei "Gib alles oder vergiss es", satte Bläsersätze der Boxhorns, die noch ordentlich nachwürzen. Auch wird hier ein Synthie eingesetzt, den ich aber nicht unbedingt für die Gestaltung des Gesamtsounds bräuchte. Besser gefallen mir persönlich die überwiegenden Titel, die direkter, mit klassischer Instrumentierung geboten werden, denn sie treiben unvermittelt ins Blut, stechen angenehm warm in den Solarplexus - oder die schönen Balladen, wie es auch jene mit dem ungewöhnlichen Titel "Sie begegnete mir auf die gleiche Art wie der Blitz in einen Baum einschlug", ist. Das atmet schon fast einen Hauch von Country, wenn hier die Violine ganz wunderschön zum Schlusssolo aufspielt.
Ganz viel Groove bietet das sehr modern orientierte "Du hast deine Farben verloren", auch hier wieder ein Stückchen Retro-Soul mit Funkelementen.
Überhaupt gibt es einiges an Retro-Elementen, ohne aber nur einen Hauch altmodisch zu wirken. Das ist auch einer jener Titel, die direkt anspringen - dazu die Gitarre, die in Richtung Chic gespielt wird. Anders dann wieder das ganz luftig schwebende "Jetzt geht's andersrum", das mich ein wenig an frühe Titel von Dire Straits erinnert. Dieser Sound ist so leicht und locker, auch das ist schon fast einzigartig in der deutschen Pop Rock-Szene.
"Du weisst wie sehr" wartet mit einem sehr guten Streicherarrangement und der so wahren Aussage »Sag besser nicht, dass es dir leid tut, wenn es nicht so ist, denn mir scheint es vielmehr, als tätest du dir selbst leid« auf. Zum guten Schluss folgt dann der kurze "Epilog" über Keyboardsound und Streicherarrangements mit der Wiederholung zweier Zeilen des zweiten Songs »Ich will die Sache nicht unnötig in die Länge ziehen, doch ich kann dich auch nicht so einfach gehen lassen…« Diese beiden Zeilen scheinen dem Künstler möglicherweise wichtig gewesen zu sein, sodass sie noch einmal so hervorgehoben werden.
Enden möchte ich nun mit einem Zitat von Reincke, mit einer Aussage, die auf ihn mit Sicherheit nicht zutrifft: »Ich bedaure den Mangel an Erlebnistiefe in einem Großteil der abgebildeten deutschen Popmusik.«
Line-up:
Michy Reincke (Gesang, Gitarre, Programmierung, Perkussion, Klänge & Geräusche)
Stephan Gade (Bass)
Jörn Heilbut (Gitarre)
Ralf Denker (Gitarre)
Martin Meyer (Piano, Orgel)
Jens Carstens (Schlagzeug, Perkussion)
Buket Kocatas (Chor - #1,2,5,8,10)
Anne de Wolff (Violine, Viola, Cello - #4 7,11,12)
Die Boxhorns :
Johnny Johnson (Posaune - #1,5,8,10)
Mat Clasen (Saxofon - #1,5,8,10)
Philipp Kacza (Trompete - #1,5,8,10)
Benny Brown (Trompete - #5)
Tracklist |
01:Steh auf & scheine (3:43)
02:Ich will die Sache nicht unnötig in die Länge ziehen (3:48)
03:Mein schwarzes Herz (4:00)
04:Deine Augen genügen (4:24)
05:Gib alles oder vergiss es (3:43)
06:Raffinierte Methoden im Umgang mit Frauen (3:50)
07:Sie begegnete mir auf die gleiche Art wie der Blitz in einen Baum einschlug (3:36)
08:Du hast deine Farben verloren (4:01)
09:Jetzt geht's andersrum (3:57)
10:Malie, komm tanzen (3:59)
11:Du weisst wie sehr (3:38)
12:Epilog (1:21)
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