Es muss wohl ein masochistischer Psycho-Trip in einer Art von realitätsraubender Fieber-Fantasie sein, der einen auf die Idee bringt, "The Lamb Lies Down On Broadway" komplett am Stück neu einzuspielen. Sie haben es getan - Respekt! Es war die Idee von Producer und Studiobesitzer Mark Hornsby, das abgefahrene Genesis-Konzeptwerk neu zu interpretieren. Und diese Mammutaufgabe wurde zur Herzensangelenheit von Spock's Beard-Drummer/-Sänger Nick D'Virgilio, der nach eigener Aussage praktisch mit dem Genesis-Klassiker im Ohr aufgewachsen ist. Das erklärt vielleicht auch, wieso NDV so ein durchgeknallter Typ ist...
... denn das Original-Doppelalbum (bzw. -Vierfachalbum zu LP-Zeiten!) ist nun nicht gerade als leicht verdauliche Schonkost zu bezeichnen. Musikalisch hatten Genesis anno 1974 mit Klängen experimentiert, dass einem nur so die Ohren glühten. Und die Story von Peter Gabriel zieht einem förmlich die Schuhe aus. Anderthalb Stunden lang folgt man dem Protagonisten Rael, einem auf die schiefe Bahn geratenen, delirierenden, mutmaßlich von einer gespaltenen Persönlichkeit gebeutelten, halb-puertoricanischen Jugendlichen bei seinem surrealen Geistertrip mit Selbstfindung (oder Selbstauflösung?) durch eine von Wahnvorstellungen gezeichnete, imaginäre New Yorker Unterwelt voller unwirtlicher Parallel-Orte mit misanthropischen, halb-mythologischen grotesken Kreaturen.
Kapiert? Nein? Macht nix. Seit Jahren versuche ich selbst, dieses Konzeptalbum mit all seinen satirischen Seitenhieben auf Sex, Kommerz und was nicht noch alles komplett zu verstehen. Da heißt es: Stark bleiben, oder den Psychiater kommen lassen! Bei Nick D'Virgilio kommt wohl jede Hilfe zu spät. Das denke ich zumindest, wenn ich mir die Fotos im Booklet der Neuaufnahme anschaue. Das Line-up führt einen Typen auf, der für »Make-up and Hair« zuständig war - das sagt schon alles. Aber was muss sich Zeremonienmeister Gabriel damals alles auf einmal reingepfiffen haben, um diesen irren Trip auf Papier zu bringen? Ich will es gar nicht wissen, denn es ist bestimmt nicht zur Nachahmung empfohlen. Doch das Ergebnis ist einfach genial.
Und das ist auch das Tribute, 34 Jahre nachdem "The Lamb" zum Leben erwacht war! Auf seine Weise, versteht sich! Was erwarte ich eigentlich - das Original-Album steht ja schon im Regal, und 'besser' wird's nicht werden. Sobald etwas umgekrempelt wird, sehnt sich der intolerante Kritiker das Original herbei; und wenn's originalgetreu nachgespielt wird, grämt sich der gemeine Purist ob der verlustig gegangenen Magie einer unübertrefflichen Vorlage. Da lobe ich mir das, was Nick D'Virgilio und ein ganzer Haufen lokaler Musiktalente aus dem Raum Nashville, wo das böse Plagiat aufgenommen worden ist, in die Rillen gepresst haben.
Rewiring Genesis besticht durch den Spagat zwischen der hohen Kunst, etliche technisch und klanglich verdammt schwierige Passagen originalgetreu wiederzugeben und auf der anderen Seite mit viel Mut und eigener Handschrift das Magnum Opus der Gabriel-Ära mal so richtig durch den Fleischwolf zu drehen. Unglaublich, aber wahr: Es gibt keine Synthesizer auf dem gesamten Album! Statt ihrer nimmt sich eine muntere Truppe aus orchestralen Streichern und Bläsern der gesamten, großartigen Tony Banks-Parts an. Verrückt ist das, und verrückt klingt es auch!
Schon die zauberhafte Melodie des Openers "The Lamb Lies Down On Broadway" baut in der Neufassung seichten Bombast mit einem konzertierten Kammerorchester-Einsatz auf - markante Blechbläser-Akzente und ein nervöses Streicher-Crescendo, welches die treu im unverwechselbaren Original anmutenden Klavier-32tel ablöst. Wunderbar, wie D'Virgilio und Konsorten die betagten Melodien in zeitlosem Glanz erstrahlen lassen! Ein Unterton, der immer wieder zwischen Jazz und Klassik hin und her pendelt. Ein stark Synthesizer-geprägtes Original wie "Riding The Scree" wird zu einem Stück Big Band-Jazz mit virtuosem Klarinetten-Solo und brummeligem Posaunen-Groove. Und wer hätte mitten in "The Colony Of Slippermen" mit einem Akkordeon-Solo gerechnet?
Den Vogel schießen aber zwei Stücke von der ersten CD ab: "The Grand Parade Of Lifeless Packaging" wird statt eines seichten Militärmarsches von vokalen »Hmm, hmm «'s, »Boum, boum «'s und » Dab, da-daah «'s sowie einer Portion Bongos begleitet. Und beim völlig verrückten "Counting Out Time", dem Stück über Raels »first romantic encounter«, wie Peter Gabriel es nennt, ersetzt diese musikalisch hochbegabte Spaßvogel-Truppe die originalen Slapstick-Sounds durch einen quietschvergnügten Dixieland! Ja, richtig... genau nach der Textzeile »Honey get hip! It's time to unzip, to unzip zip, zip-a-zip, zip-a-zip. Whippee!« Und ein paar Takte vor der wunderhübschen Paraphrasierung eines misslungenen Geschlechtsaktes: »I got unexpected distress from my mistress«.
Hier und da haben D'Virgilio & Co. aber auch genügend 'Anstand', sich ans Original zu halten, so beispielsweise beim zärtlich-zauberhaften Vibe von "Carpet Crawlers". "Lilywhite Lilith" rockt, und wie! Auch das muss sein. Der Vorlage erstaunlich hörig war man bei "The Waiting Room", einem regelrechten Feuchtbiotop expressionistischer Klang-Querulanz. Es quietscht und fiepst und klirrt und donnert! Es muss eine Herausforderung gewesen sein, dieses Chaos zu rekonstruieren! In die Credits hat deshalb auch Jimmy Blankenship Einzug gehalten - für »Experiments with foreign sounds«. Die Stelle, an der die Band einsetzt - eine meiner rhythmischen Lieblingspassagen von Genesis überhaupt - ist eine tolle Gelegenheit für Nick D'Virgilio, sein Können zu beweisen. Findet er auch: »The way Phil Collins plays around the beat and then completely changes it towards the end is just great in my opinion, and I needed to be as close as possible to the original«, schreibt er auf seiner Internetseite.
Zu guter Letzt ist NDV durch die entsprechende Praxis bei Spock's Beard auch ein richtig guter Sänger geworden. Etliche im Original synthetisch verzerrte Gabriel-Passagen singt er klar und effektfrei; dadurch wirkt der Gesang sehr präsent und vordergründig. Und er macht seine Sache prima - zeigt, wie wandelbar seine Stimme ist. Eines von vielen Highlights ist die "Broadway Melody Of 1974", eine wahrlich wunderbare 'Melody', für die er expressiv und hoch singen und auch tief flüstern muss. Bei "The Lamia" bekommt er überraschenderweise weibliche Gesangs-Unterstützung von einer der Lamien!
Nach mehr als anderthalb Stunden "Lamb" bin ich begeistert und verblüfft - begeistert ob der musikalischen Klasse dieser Neuinterpretation und der unglaublichen Detailarbeit famoser Musiker, und verblüfft, wie ausdrucksstark die Trompeten, Bratschen und Klarinetten diese unsterblichen Melodien interpretieren. "The Lamb Lies Down On Broadway" - dieses Meisterwerk war 1974 revolutionär! Das Remake 34 Jahre später ist mutig, gewagt, großartig. Nicht einfach irgendein Cover. Sondern "Lamb 2.0"...
...und ein Anstoß für die 'Generation Spock's Beard', sich dieses Meisterwerks anzunehmen, wenn nicht schon geschehen. Für mich war es eine tolle Gelegenheit, nach langer Abstinenz wieder in das nun auch bewiesenermaßen zeitlose Meisterwerk einzutauchen, das komponiert wurde, lange Jahre bevor der Autor dieser Zeilen überhaupt das Licht der Musikwelt erblickt hat. Belohnt werde ich immer wieder durch einige der coolsten Reime der Rockgeschichte. Meine Lieblingsstelle ist und bleibt Raels drohende Kastration in "A Visit To The Doctor": »Doktor Dyper, reformed sniper - he'll whip off your windscreenwiper«. Und irgendwann hab' ich auch raus, was das Lamm auf dem Broadway zu suchen hat...
Line-up:
Nick D'Virgilio (lead and background vocals, drums, percussion)
Don Carr (electric and acoustic guitar, electric sitar, banjo)
Dave Martin (bass)
Jeff Taylor (acoustic piano, accordion, whistle, Rhodes, Wurlitzer)
Kat Bowser (background vocals)
Carolyn Martin (background vocals)
Mike Lusk (background vocals)
Steve Patrick (trumpet)
Jeff Bailey (trumpet)
John Hinchey (trombone)
Prentiss Hobbs (trombone)
Sam Levine (saxophone, clarinet, flute)
Doug Moffet (saxophone)
Leigh Levine (clarinet)
David Angell (violin)
Pam Sixfin (violin)
David Davidson (violin)
Kristin Wilkinson (viola)
Anthony Lamarchina (cello)
Jimmy Blankenship (experiments with foreign sounds on "The Waiting Room")
Tracklist |
CD 1:
01:The Lamb Lies Down On Broadway
02:Fly On A Windshield
03:Broadway Melody Of 1974
04:Cuckoo Cocoon
05:In The Cage
06:The Grand Parade Of Lifeless Packaging
07:Back In N.Y.C.
08:Hairless Heart
09:Counting Out Time
10:The Carpet Crawlers
11:The Chamber Of 32 Doors
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CD 2:
01:Lilywhite Lilith
02:The Waiting Room
03:Anyway
04:Here Comes The Supernatural Anaesthetist
05:The Lamia
06:Silent Sorrow In Empty Boats
07:The Colony Of Slipperman (Arrival - A Visit To The Doktor - Raven)
08:Ravine
09:The Light Dies Down On Broadway
10:Riding The Scree
11:In The Rapids
12:It
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Externe Links:
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