»Ich geh weg, ich geh weg, ich geh weg und such' was Neues« hatte Rio Reiser auf einem Song der Ton Steine Scherben gesungen. Und diese Worte hat er dann vor 10 Jahren resolut und unumstösslich wahr werden lassen.
»Ich geh weg«. Und zwar »Schritt für Schritt ins Paradies«. Ich wünsche ihm, dass er dort angekommen ist.
Es war am 20. August 1996 in einem kleinen Dorf namens Fresenhagen in Schleswig-Holstein, als das Herz eines der wichtigsten, innovativsten und besten Deutsch-Rocker von einem auf den anderen Moment seine Funktion einstellte. Rio Reiser wurde gerade mal 46 Jahre alt und hinterliess in der deutschsprachigen Rockmusik eine nicht zu schließende Lücke.
Bereits im Frühjahr 1967 verschlug es den jungen Rio nach Berlin, um als musikalischer Direktor und Komponist für die erste deutschsprachige Beat-Oper, einem Projekt seiner beiden älteren Brüder, zu fungieren. Die Beat-Oper war zwar ein Flop, aber für Rio war klar, dass er Musiker sein wollte. Mitgerissen von den politischen Strömungen und Vorkommnissen dieser Zeit folgte dann eine Periode mit Agitations-Strassentheater, bevor 1970 mit Kai Sichtermann (Bass), Wolfgang Seidel (Schlagzeug) und Rios altem Kumpel aus dem hessischen Oberroden, R.P.S Lanrue (Gitarre) Ton Steine Scherben, die erste deutschsprachige Rockband gegründet wurde.
Jetzt komm' mir bitte auch bloss keiner mit Namen wie Udo Lindenberg (der eh später dran war) oder Ihre Kinder. Das wäre nämlich genauso, wie die Rolling Stones mit den Beatles zu vergleichen. Die Scherben waren kraftvoller, fordernder, aggressiver, rauher und textlich sowohl punktgenau, als auch genau am Puls der Zeit.
Man hatte sich dem Kampf gegen den Kapitalismus, vor allem aber für den Humanismus verschrieben und so waren die ersten beiden Alben der Band ("Warum geht es mir so dreckig?" von 1971 und "Keine Macht für Niemand" von 1972) fast durchweg sehr stark von politischen Texten geprägt, die mit harter Rockmusik unterlegt wurden.
Als im Jahr 1975 das Album "Wenn die Nacht am Tiefsten..." erschien, hatte die gesamte Scherben-Kommune, ausgelaugt von finanziellem Bankrott, regelmäßigen Hausdurchsuchungen der Gesetzeshüter und dem auf sie von den linken Politik-Gurus ausgeübten Druck (sie sollten Hausband für deren Veranstaltungen sein, selbstverständlich ohne Gage spielen und sich dann auch noch vorschreiben lassen, welcher Song gespielt werden durfte und welcher nicht) Berlin bereits verlassen.
Sie hatten sich auf einen maroden Bauernhof im Norden Schleswig-Holsteins verzogen, waren schon lange politikmüde und wollten einfach nur eine Rockband sein, was in der damals noch geteilten, heutigen Hauptstadt, nicht möglich gewesen wäre.
Hatte "Wenn die Nacht am tiefsten..." bereits deutlich weniger politische Inhalte und war agitations- und parolenfrei, so war von diesen Inhalten auf den letzten beiden Studioalben "IV" (die Schwarze), das meiner Meinung nach beste deutsche Rock-Album überhaupt, und "Scherben" kaum noch etwas zu finden. Die Band zerbrach schließlich an ihrer Schuldenlast. Zu wenig Plattenverkäufe, lächerlich niedrige Ticketpreise für die Konzerte und die katastrophale Fehlkalkulation einer Tour im Jahr 1982 ließen die Räder dann im Jahr 1985 endgültig zum Stillstand kommen.
Während ich diese Zeilen schreibe, fällt mir bezüglich der musikalischen Relevanz unweigerlich der Vergleich zu The Velvet Underground ein. Fast niemand hatte die Platten der Band gekauft, aber sehr viele, die es getan hatten, haben danach eine eigene Band gegründet. Der Einfluss der Scherben ist aus heutiger Sicht derart, dass man nicht über Rock mit deutscher Sprache diskutieren kann, ohne diese Combo zu erwähnen.
Rio machte Solo weiter und landete mit seinem ersten Album und dem darauf enthaltenen Megahit "König von Deutschland" (der bereits im Jahr 1975 zu Scherben-Zeiten geschrieben, aber nie aufgenommen wurde) einen Riesenerfolg. Bis zu seinem Tod erschienen (mit leider sinkendem Erfolg) noch fünf weitere Studio-Produktionen und sein Gesamtwerk umfasst darüber hinaus noch ein große Zahl von Theater- und Kinderplatten, Filmrollen, sowie Film-Musiken.
Rio Reiser war echt. Man glaubte ihm, was er sang. Niemand zuvor und auch bis heute kann und konnte keiner so überzeugend auf der Bühne in einem Song sterben, um dann im nächsten die Wiederauferstehung zu zelebrieren.
Bei seinen Konzerten frei von aufgesetztem Rockstar-Gehabe und trotzdem ein Rocker durch und durch, der die Menschen, die ihm zuhören wollten (und die bis Mitte der 80er-Jahre von erschreckend geringer Anzahl waren), mit seinen einzigartigen Texten und seinem auf allen Ebenen sehr emotionalem Gesang, stark berührte und ihnen aus der Seele sprach.
Über Rio Reiser ist von Hollow Skai eine Biografie erschienen.
Rest in peace, Rio. Wir vermissen dich!
Schritt für Schritt ins Paradies - Zum 10.Todestag von Rio Reiser
Markus Kerren, 19.08.2006
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