Autor Jon Collins ist mit "Chemistry" eine detaillierte Biografie des Göttertrios Rush gelungen, die weit über die schon allseits bekannten zahlreichen Insider-Geschichten hinausgeht, Halbwahrheiten klarstellt und entstandene Mythen über die Band erklärt. Auf knapp 200 Seiten - klein bedruckt und somit reich an Inhalt - schafft er es, das komplette musikalische Schaffen der Kanadier en détail zu beschreiben und es nicht bloß mit Einzelheiten aus dem Leben von Neil Peart, Geddy Lee und Alex Lifeson zu würzen, sondern seine Ausführungen stets untrennbar mit den persönlichen Begebenheiten und dem Umfeld der Musiker zu verbinden.
Dabei verknüpft Collins, der sich schon nach der ersten Seite nicht mehr als Rush-Superkenner beweisen muss, umfangreiches Insiderwissen mit Unmengen an Zitaten von der Band selbst und ihren engsten Weggefährten, die er nicht zuletzt aus etlichen neuen Interviews mit Rush-Mitstreitern wie z.B. Produzenten und Mitgliedern der Roadcrew gewonnen hat. Daraus zieht er mitunter auch eigene Schlüsse und setzt die gewonnenen Informationen gekonnt zu einem chronologisch vorgehenden, übersichtlich in zahlreiche Kapitel und Abschnitte unterteilten Gesamttext um. Dieser ist in einem intelligenten und anspruchsvollen Englisch geschrieben, einem Stil, der sich gekonnt jedem Erzählinhalt anpasst und dadurch "Chemistry" vor der drohenden Langeweile einer Biografielektüre bei weitem erspart.
Da passt es auch zum Wesen Rushs, wenn sich Collins bei aller Akribie um kein Augenzwinkern zu schade ist, z.B. wenn er von Lifesons Hobby, den Modellflugzeugen erzählt, »that had a nasty habit of crashing into large, inanimate objects - such as the ground«. Auch fügt er den von ihm angeführten Zitaten schon mal trockene Kommentare hinzu, was aus objektiver Sicht eigentlich nicht nötig, dann aber viel langweiliger wäre. So berichten seine Quellen u.a. davon, dass Rush die Zeit vor Gigs mitunter mit Berlitz-Französischkursen verbrachten, und Collins zitiert ihren Agenten von damals mit den Worten »I have never walked into a back stage area where it had 'quiet please, lessons in progress'«, lässt dann eine Zeile frei und schreibt »Rock and roll.«. Es sind genau solche Kuriositäten, durch welche dieses Buch Rush in einer nie da gewesenen Weise beschreibt - eine Band, die wie keine andere ihren eigenen Weg statt den der breiten Masse gegangen ist und sich dabei ein derart immenses, treues Publikum praktisch selbst geformt hat und schließlich über alle Kritiker triumphierte.
"Chemistry" erzählt von dem Schuljungen Alex Lifeson, der mit elf Jahren Bratsche zu lernen begann, vom jungen Geddy Lee, der zu einer frühen Ausgabe von Rush stieß, als der eigentliche Basser besoffen ausfiel, und von dem introvertierten Drummer Neil Peart, der Alex Lifeson schon beim allerersten Vorspielen imponierte: »...if there was one thing the farm boy didn't look, it was cool«. "Chemistry" zeichnet präzise den Weg der drei von Auftritten mit 25 Cent Eintritt bis hin zur 30-jährigen Jubiläumstour und vergisst keinen Namen, kein wichtiges (und kaum ein unwichtiges) Ereignis auf diesem Weg.
Das besondere ist, dass man hier nicht nur erfährt, dass die Produzenten gewechselt haben, dass die Lyrics von zunächst mythischen Hintergründen immer realitätsbezogener wurden - hier wird auch das warum und die Reaktionen darauf durchdiskutiert.
Selbstverständlichkeiten wie Geddy Lees oft gehuldigtes Multitasking von Gesang, Bass, Keyboards und Samples werden hintergründig beleuchtet. Wenn man liest, wie er sich selbst an all das gewöhnen musste, die Synthesizer-Tasten für die Samples zur besseren Kenntlichmachung farbig markierte und doch einmal durch zu spätes Betätigen beinahe einen Song zum Kollaps brachte, macht das die Götter plötzlich wieder menschlich.
Zu erfahren, wie genau die einzelnen Alben entstanden sind und warum ausgerechnet so, macht ungeheure Lust, sich alle sofort wieder anzuhören und lässt so manchen Song in einem völlig neuen Licht erscheinen. Geschmückt werden die Seiten durch zahlreiche Schwarzweißfotos. Grau hinterlegte Textboxen erscheinen zudem nicht nur zu jedem Album und ordnen die Musik fachmännisch und emotional ein. Sie streuen auch kleine Anekdoten ein, z.B. darüber, wie die Jungs in einem Soundcheck zur Songidee von "Luis the Warrior" jammten und "Tom Sawyer" daraus machten, oder wie Neil Peart bei einer seiner ausgedehnten Trips in Gambia zu Rhythmen inspiriert wurde.
Als eine Art Running Gag dienen die immer wieder dazwischengestreuten 'Cheap Shots', Ausschnitte aus Verrissen nicht wohlwollender Musikkritiker, die nach Rushs endgültigem Triumph über alle Nörgler recht erheiternd wirken. Für eingefleischte Fans der Band ist dieses Buch eine fantastische Reise durch das nicht immer einfache Leben der drei Kanadier - akribisch, aber nie voyeuristisch - und bietet jedem noch so gestandenen Fachmann viele neue Einblicke, oder wie Produzentenlegende Terry Brown es in seinem Vorwort schreibt:
»This book lays bare the entire story, providing insight and anecdote, detailing events otherwise missed or overlooked and above all following a truly unique musical journey.«
Abschließend enthält das Buch eine Diskografie der Band sowie eine mehr als 50 Seiten starke 'Personology', in der über 165 (!) Personen aufgezählt werden, die ihren Part zum Erfolg der Band beigetragen haben. In knapp gefassten bis ellenlangen Ausführungen werden die Hintergründe von bekannten Personen erläutert, wie von den Produzenten und Toningenieuren Terry Brown, Peter Collins, Jimbo Barton oder Paul Northfield, von Grafiker Hugh Syme, Tourmanager und Lighting Director Howard Ungerleider oder auch Fotograf Andrew MacNaughtan. Aber auch DJs, die der jungen Band Rush einst zu Radiospielzeit verhalfen, ausgewählte Musikjournalisten, Label-Manager, alle möglichen Mitglieder der Road Crew bis hin zum Maler des "Fly By Night"-Covers. Dass es auch hier immer wieder Exklusives zu erfahren gibt, zeigt u.a. das komplett abgedruckte Gedicht "Between Us" von Pye Dubois, das als Grundlage für die Lyrics zu "Between Sun And Moon" diente. Nur bei diesen drei Personen sind die Informationen sehr knapp gehalten:
»Geddy Lee: Bass and vocals. And keyboards.
Alex Lifeson: Guitars. Lots of guitars.
Neil Peart: Percussion. And chocolate.«
Das Buch ist inzwischen auch in einer deutschen Übersetzung unter dem Titel "Die Chemie von Rush" beim "I.P. Verlag Jeske/Mader" erschienen. Da ich aber nur die Originalfassung gelesen habe, kann ich nicht beurteilen, wie gut die Übersetzung gelungen ist.
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