SBB / Four Decades
Four Decades Spielzeit: 215:00
Medium: DVD
Label: Metal Mind Productions, 2008
Tonformat: Stereo 2.0, Dolby Digital 5.1, Surround-Sound
PAL
Sprache: Polnisch, Englisch
Region free
Stil: Art Rock

Review vom 23.05.2008


Ingolf Schmock
Es gestaltet sich für einen Rezensenten nicht sonderlich einfach, über eine Band zu schreiben, welche seit fast vierzig Jahren musiziert und veröffentlicht, und bei vielen Anhängern der progressiven Rockmusik, ob im Osten oder Westen der Republik und selbst international, Kultstatus genießt, aber irgendwie letztendlich über den Insiderstatus nie herausgewachsen ist.
Begonnen hatte alles 1971 im polnischen Katowice mit der Gründung der Silesian Blues Band. Czes ław Niemen, die damalige Leitfigur der polnischen Rockszene entdeckte ihr meisterliches Handwerk, heuerte sie als Begleitmusiker an und spielte unter dem Namen Niemen insgesamt vier Langspielplatten mit ihnen ein. Das Trio fühlte sich dennoch bald in seiner Kreativität eingeengt, und befreite sich im Juni 1973 als S(earch) B(reak) B(uild) (polnisch:Szukaj Burz Buduj) in die Unabhängigkeit.
Tastenvirtuose Józef Skrzek, spieltechnisch durchaus dem Niveau eines Keith Emerson oder Chick Corea würdig, verblüffte die Fachpresse schon damals mit seinem riesigen Arsenal von Moog-Synthesizern. Apostolis Anthimos Gitarrenausflüge waren keine Soli im herkömmlichen Sinn, sondern wunderbar filigrane Gewebe, mit genug Freiheit für individuelle tonale Entfaltungen.
Damals noch von den Synthieschwällen weggeschwemmt, spielen Saiteninstrumente neuerdings wieder eine gleichberechtigte Rolle, so wie auf den aktuellen Bandproduktionen. Schlagzeuger Jerzy Piotrowski verknüpfte die musikalischen Gebilde an seinem Minidrumkit, mit dem er Ginger Baker oder Carl Palmer durchaus Paroli bieten konnte.
Außerhalb Europas blieb den drei Herren die Glückssträhne versagt, aber in ihrer Heimat und Resteuropa gastierten die göttlichen Artrocker vor Zehntausenden. Auf Einladung der Ex-DDR Plattenfirma Amiga produzierten sie 1977 eine wenig geliebte Platte mit kurzen kommerziellen Stücken, aus dem Endlosfundus ihrer Radioaufnahmen.
In Westdeutschland hingegen kreierten SBB für das Spiegelei-Label drei rundherum hervorragende, fast vermächtnishafte Alben, die als "Deutsche Trilogie" in die Band-Analen eingingen.
Die Musiker schöpften all die Jahre aus dem Vollen, praktizierten kunstvolle Suiten, byzantinisch verschachtelte, märchenhaft swingende Electronik-Eskapaden mit eigentümlichen Konglomeraten unterschiedlichster Folklore, aber auch punktgenaue Kurzinstrumentals, machten ihre Studioproduktionen zu Unikaten.
Es begann, trotz Hinzunahme eines zweiten Gitarristen, zu stagnieren, man probierte sich an einer melodischen Hardrock und Jazzkombination, was aber nicht half. SBB gaben am 10. November 1980 im hessischen Marburg ihr letztes Konzert.
Erst 1993 flammte die Band als Quartett noch einmal kurzzeitig auf. Schlagzeuger Piotrowski aber wanderte in die USA aus und so gab es erst einmal eine Zwangspause. 1997 eröffneten die Re-Releases der fünf "Muza"-LPs auf CD ein weiteres Bandkapitel, mit wechselnden Schlagwerkern u.a. Ex-Pat Metheny Drummer Paul Wertico und nun steuerte ein umtriebiger, polnischer Fanclub die Bandaktivitäten.
Seit 2000 existiert nun wieder eine kontinuierliche Veröffentlichungspolitik, regelmäßige Konzerte, und sogar neue Studioalben machten den Artrockfans wieder Appetit auf mehr. Allein ihre umfangreiche Diskographie dürfte für so manchen Genre-Sammler eine wahre Schatzkiste sein. Sämtliche Alben wurden digital bearbeitet und eine schier unüberschaubare Fülle von Bonusmaterial, als 22 CD-, 9 CD-Box und so weiter, neu auf den Markt geworfen.
Letztes Jahr ging das frisch renovierte Trio mit dem Ungar Gábor Németh, welcher vorher bei Skorpio und P.Mobil die Trommelfelle bearbeitete, ins Studio, um das jüngste Produkt "The Rock" einzuspielen. Die etwas nostalgisch wehmütig anmutenden Kompositionen erinnern nur noch in Fragmenten an die alte Band, die bombastischen Instrumentalorgien sind zugunsten eingängiger, harmonischer Noten geschrumpft, wirken kühl und von jahrzehntelanger Musikerweisheit beseelt.
So ergab es sich, dass die polnischen Kunstrocker im Rahmen der "The Rock"-Veröffentlichung am 19. November 2007 im Katowicer Wyspiański Theater antraten, um den musikalischen Geist der Siebziger auf ihre gereifte Art zu transformieren und für die Nachwelt als Bild- und Tonkonserve zu bannen.
Eine der Band standesgemäß subtile Mischung aus neuen und alten Kompositionen (wobei eigentlich nur drei aktuelle Beiträge erklingen), zaubert hörbar eine sehr ausgeglichene und zugleich intensive Magie auf die Konzertbühne. Dabei konzentriert sich die visuelle Szenerie vordergründig mehr auf die drei Handwerker und deren musikalischen Vortrag, ohne den Konsumenten optisch mit einer lichttechnischen Zirkusnummer zu überfordern. Hierbei wurde sehr geschmackvoll gearbeitet, um den bluesigen, jazzigen, folkloristischen und sphärischen Artrock der Polen ins rechte Licht zu rücken. So gerät der Live-Mitschnitt zum optisch-räumlichen Erlebnis, welcher über eine standardisiert abgefilmte Konzeption hinauswächst, und in der Kopplung mit dem wunderschönen sakralen Umfeld eine eigenständige Bildwelt suggestiert.
Apostolis Anthimos bekommt während des Auftritts recht ausgiebig die Chance, seine impressionablen Gitarrenkünste anzupreisen und ausladende Soli zu praktizieren. Er musiziert dabei nicht mehr so rau und wild wie auf früheren Outputs, sondern eher intuitiv wohldosiert und feinnerviger. Beim neuerem, mainstreamigen "Plonące Myśli" verleiht sein elgisches Solo am Ende diesem Song die nötige Substanz, bringt den bluesrockigen "Rainbow Man" auf mitreißende Weise dazu, über den Standard hinauszuwachsen.
Hinzu kommen der Schlagzeuger Gábor Németh, der teils mit einem fundierten kraftvollen, andererseits mit einem sensiblen und austarierten Spiel besticht, sich sogar zu einem spektakulären Grateful Dead -mäßigen Doppel mit Anthimos am zweiten Kit hinreissen lässt.
Über allem trohnt Tastenmeister und Bandoberhaupt Józef Skrzek, der des Öfteren mit seinem ausdrucksstark-expressiven Synthieensemble zu langen improvisativen Ausflügen aufbricht, um die klanglichen Feingewebe zu verspinnen. Sein Gesang wirkt allerdings bei aller Emotionalität stellenweise, ohne die Studiotechnik im Rücken, doch relativ dünn bzw. farblos, was man von seinen anteiligen Bassbeiträgen, mit dem er in langen Hardrock-Passagen die ausufernden Gitarrensoli untermauert, nicht behaupten mag.
Das Konzert der Polen bietet dem geneigten Genreliebhaber kammermusikalischen Art Rock von zeitloser Schönheit, sowie sensibel-kommunikative Interaktionen von drei gestandenen Musikanten, die eine dichte, aber nuancierte Klangmalerei erlauben und über die gesamte Länge ausgiebig zelebrieren.
Alle fünfzehn Stücke wurden dabei einem völlig regenerierten Arrangement unterworfen, aus so manch jazzigem Klassiker wurde ein episch-sphärischer Koloss, und aus dem hardrockigen Neuwerk ein introvertiertes, harmonisch-symphonisches Konstrukt.
Das Bild, die unaufgeregten Kameraperspektiven, die intensive Bühnenbeleuchtung, psychedelische Hintergrundvideos, die aufgeräumte Bühne inklusive dem Ton, lässt diese DVD zu einem wirklichen Gourmethappen mutieren.
Gestochen scharfe Bildaufzeichnungen, perfekte Regiearbeit von Kamera und Licht lassen dabei kaum Wünsche offen. Der Ton, wahlweise als 2.0 Stereo oder 5.1 Dolby, entspricht dem Ganzen in seiner Transparenz und dynamischen Ausgewogenheit. Zudem offenbart diese DVD für den SBB-Interessierten jede Menge Bonusmaterial.
So gibt es zum einen den vierundvierzigminütigen Bandauftritt vom 24. Februar 2006 aus der Spodek Hall, Katowice zu bewundern, bei denen die Polen Deep Purple (!), als Quartett mit anderem Schlagzeuger (Irek Glyk) und zweitem Gitaristen (Slawomir Piwowar) supporten durften. Dieses kurze, konzertante Intermezzo besticht mit einer hervorragenden Akustik, ist aber szenenbildlich eher nüchtern gehalten.
Des Weiteren kann man ausführlichen Interviews der Musiker lauschen, vor allem mit Schlagzeuger Gábor Németh, der hier tiefe Einblicke in die Ostblock-Rockgeschichte darbietet. Ansonsten denke ich, sind Biografien, umfangreiche, detaillierte Diskografien, Photogalerien und wählbare Untertitel mittlerweile als selbstverständlich anzusehen.
Bei dieser Konzertaufzeichnung wurde meisterhaft gearbeitet und alle technische Nuancen kreativ ausgeschöpft und auch szenisch umgesetzt. "Four Decades" ist ein 215 minütiges Meisterstück, welches man sich in solcher Qualität und Quantität öfters wünschen würde - ein kollektiver Ohren- und Augenschmaus.
Fazit: Unbedingte Empfehlung für alle Liebhaber der anspruchsvollen Rockmusik und Musikcineasten.
Tracklist
Wyspiański Theater, Katowic, 19. November 2007
01:Pielgrzym
02:Odlot
03:Freedom With Us
04:3rd Reanimation
05:Going Away
06:Żywiec Mountain Melody
07:Memento Z Banalnym Tryptykiem
08:Pieśń Stojącego W Bramie
09:Plonące Myśli (Ojcu)
10:Rainbow Man
11:Drums
12:Walkin' Around The Stormy Bay
13:Skala/The Rock
14:Sunny Day
15:Z Których Krwi Krew Moja

Spodek Hall, Katowice, 24 Februar 2006
16:Memento Z Banalnym Tryptykiem
17:New Century (Tajemniczy Świat Mariana)
18:Odlot
19:Rainbow Man
20:Calkiem Spokojne Zmęczenie
21:Improv:Drums-Battle
22:Walki' Around The Stormy Bay
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