Der Prolog:
Stell' dir vor, es findet in deiner Stadt eines der (Rock)Konzerte des Jahres statt, und du gehst als großer (Rock)Musikfan einfach nicht hin!
Zugegeben, ein Mittwochabend ist nicht gerade ein idealer Termin, aber weißt du überhaupt, was während eines Wochenendes in einem Moloch wie Hamburg so alles (musik)kulturell abgeht? Da hätte doch eine Band, die in den Medien (noch) nicht stattfindet und somit vollkommen unbekannt ist, erst recht keine Chance auf angemessene Zuschauerzahlen, oder?
Also, wo warst du am Mittwoch, dem 10.08.2005?
Jedenfalls nicht im 'Fundbureau' in der Hamburger Stresemannstraße Nr. 114.
Und das kann wahrlich nicht am Wetter gelegen haben, denn der Sommer hatte sich schon die gesamte Woche über eine Total-Auszeit genommen, also ideale Bedingungen für einen kleinen aber feinen Club-Gig!
Und am Ticketpreis kann es noch viel weniger gelegen haben, oder sind etwa 7,00 € für zwei Bands und gute 150 Minuten Nettospielzeit zu viel?
Und am allerwenigsten kann es an der Qualität der Bands gelegen haben, die nämlich noch den echten, ehrlichen, unverfälschten, schwitzigen, ja ... sogar variantenreichen Rock 'n' Roll verkörpert haben, ohne Netz und doppelten Boden, wenn auch mit völlig unterschiedlicher Grundausrichtung. Also langweilig konnte es auch nicht werden!
Ganz im Gegenteil, liebe Leute, ihr dürft euch noch nachträglich in den berühmten Allerwertesten beißen, denn ihr habt die einmalige Chance verpasst, einen denkwürdigen Club-Gig zu erleben, der sowohl von der Atmosphäre (Location), als auch von der Art des musikalischen Vortrags her an legendäre Veranstaltungen in den 'Roaring Sixties' erinnerte, wo in Metropolen wie London oder eben besagtem Hamburg die Clubszene blühte und (rock)musikalische Geschichte geschrieben wurde.
Der größte Unterschied bestand somit leider darin, dass sich im Gegensatz zu den boomenden Clubs der Sechziger im 'Fundbureau' gerade mal geschätzte 35 zahlende Leute einfanden. Ein Trauerspiel! Gerade für die selbsternannte Musikhochburg Hamburg.
Aber diese werden ihr Kommen garantiert nicht bereut haben, genauso wenig wie die Leute, die wie ich die Ehre hatten, auf der Gästeliste zu stehen.
Die Location:
Nach ziemlich genau 170 Kilometern Anfahrt erwartet mich ein erstaunlich aufgeräumtes Hamburg, kein Stress im Straßenverkehr und die Stresemannstraße ist auch sehr einfach zu finden. Einfacher jedenfalls, als anschließend für den fahrbaren Untersatz einen vernünftigen Parkplatz zu organisieren.
Und dann stehe ich vor dem 'Fundbureau', einer kleinen, von außen lustig anmutenden 'Baracke' mit viel Graffiti und noch mehr Schäden im Gemäuer.
Oha, das mutet wirklich alternativ an, in der 'Bruchbude' soll hier und heute ein Konzert stattfinden?
Tatsächlich, ich erspähe ein Plakat, welches im besten Fillmore-Outfit Siena Root für 21.00 Uhr am heutigen Abend ankündigt.
Wir haben es jetzt 20.45 Uhr und ich frage mich, wo denn eigentlich der Eingang sein soll. Dann geht eine Tür auf und ich erfahre, dass der Laden erst um 21.00 Uhr öffnet.
Nun denn, ich richte mich schon mal auf einen längeren Abend ein und betrete pünktlich das obskure Gemäuer. Innen erwartet mich der Charme eines politischen Untergrundtreffs der 70er, zunächst eine Art größerer Vorraum, mit diversen abenteuerlichen Sitzmöbeln und der Kasse ausstaffiert. Von dort aus gelange ich in die kleine 'Findbar' und anschließend in den sogenannten 'Ausstellungsraum' mit einer langen, sich längsseitig befindlichen Theke und einigen weiteren Sitzgelegenheiten. Ansonsten wähne ich mich in einem ziemlich kahlen Kellergewölbe mit entsprechend niedriger, tunnelartig gewölbter Decke.
Direkt parallel angrenzend geht's in den 'Aktionsraum', an dessen Kopfende sich die kleine Bühne befindet. Plötzlich zucke ich zusammen, über meinem Kopf entlädt sich ein Gewitter. Nein, ich werde gewahr, dass über dem 'Fundbureau' eine U-Bahnlinie hinweg rauscht, irre!
Das Ganze hier hat wirklich Charme, deutlich mehr Charme als alle chrom- und glasverblendeten Upperclass-Etablissements dieser Welt!
Übrigens war früher dieses Gemäuer tatsächlich mal ein Fundbüro der Deutschen (Bundes)Bahn.
Heute wird das 'Fundbureau' als Kulturverein geführt, existiert in dieser Form seit ca. 5 Jahren, hat sich als Kulturzentrum zu einem Kommunikationsknotenpunkt für den Stadtteil entwickelt, bietet alles im Geflecht von Ausstellungen, Mottopartys, Konzerten, Performances, Exkursionen, Lesungen usw. und lebt von seinen ehrenamtlichen, sehr engagierten Mitarbeitern sowie wohlwollenden (finanziellen wie politischen) Förderern.
Hier wird auf der Ebene von (Rock)Konzerten noch mit kleinen, jungen, frischen, enthusiastischen, idealistischen Agenturen zusammengearbeitet, bei denen noch für die Sache an sich, nämlich die gute (Live)Musik jenseits des schnöden Mammons, gestritten wird.
Somit wird sowohl regionalen als auch überregionalen oder internationalen (unbekannten) Bands abseits des Mainstreams eine Plattform ermöglicht, sich vor interessiertem Publikum präsentieren zu können.
Eine dieser jungen Agenturen ist beispielsweise 'Rock This Town Concerts' aus Bielefeld, die vom Booking her für die Acts des heutigen Abends verantwortlich zeichnen und mit deren zwei Hauptprotagonisten, Ingo & Kiste, der RockTimes-Redakteur sehr angenehme Bekanntschaft schließen kann.
Es wäre ihnen, genauso wie dem Kulturzentrum, wahrlich zu wünschen gewesen, an diesem Abend auf eine bessere Resonanz zu stoßen, denn sie alle präsentieren uns mit Almost Amused eine sehr gut abgehende Hamburger Lokalcombo und mit Siena Root aus Stockholm einen der aufgehenden Retro-Rock-Sterne am Rock 'n' Roll Firmament überhaupt!
Das Konzert:
Natürlich werden keine Beat-Klänge zu Gehör gebracht. Da hören die Vergleiche mit den 'Roaring Sixties' selbstredend auf, es gibt auch keinen rohen Brit-R&B auf die Ohren. Heute Abend regiert die skandinavische Variante des Rock 'n' Roll.
Zunächst heizen uns Almost Amused mächtig ein und erinnern dabei munter an die ganze Schar heißblütiger Punk 'n' Roller aus dem hohen Norden, an deren (kommerzieller) Spitze derzeit Bands wie beispielsweise The Hellacopters stehen. Dabei wird manch rüde Attacke auf den diversen Instrumenten geritten, die gute alte Orgel wird auch nicht vergessen und irgendwie riecht es doch nach 'Cavern', 'Marquee', 'Crawdaddy', 'Star-Club' usw. Es rockt jedenfalls amtlich, ohne je in metallische Bereiche abzudriften.
Und ich fühle mich wie ein Pionier, der gerade dabei ist, den wahren Rock & Roll zu entdecken. Großer Applaus für die wackeren Jungs von Almost Amused, denn ich bin durchaus amused.
Pause, Umbau, n' kühles Blondes einverleiben. Ich kann schon im Vorfeld ein paar Worte mit KG West wechseln, dem Sechs-Saitenquäler von Siena Root, deren ausgesprochen nette und sympathische Bekanntschaft ich während des Burg Herzberg Festivals machen konnte.
Sie sind gut drauf, obwohl so wenige Leute da sind, und ob unseres Palavers verpasst West fast seinen pünktlichen Auftritt.
Immerhin muss er noch das Ungetüm einer Sitar auf die Bühne schleppen, die ansonsten sowieso schon ziemlich vollgestellt erscheint. Na ja, die Burg Herzberg Bühne hatte da halt ganz andere Ausmaße.
Und dann geht's los, ungeachtet der vorherigen Powerband mit einem ausgiebigen Sitarsolo von KG West, straight back to the Beatles in India, where they met Ravi Shankar.
Es ist und bleibt verdammt mutig, derart meditativ ein Rockkonzert zu beginnen, zumal der barfüssige KG West auch ein perfektes optisches Äquivalent abgibt.
Dann greifen Schlagwerker Love H. Forsberg und 'Master Of The Monstergroove' Sam 'The Riff' Riffer ins Geschehen ein, West wechselt an die Orgel und die Band zelebriert ein fließend fliegendes Instrumental, welches alsbald, sofern sie sich darauf einlassen können, auch das staunende Publikum fliegen lässt.
Nein, nein, Siena Root sind nicht von Hier und Jetzt, sie sind aber auch nicht von damals, sie sind eigentlich überhaupt nicht von dieser Welt, sondern schweben auf einem dichtgeknüpften, rhythmisch groovenden Teppich dahin, so dass das Geschehen fast schon surreal wirkt. Würde ich nicht Fotos machen, um diesen Beitrag optisch aufzuwerten, ich wäre längst ebenso entschwebt im schwerelosen Kosmos von Raum und Zeit.
Plötzlich röhrt eine angeraute, weibliche Stimme dazwischen und ich erwache schlagartig aus meinem fotografischen Tagtraum. Gastsängerin Sanya hat inzwischen fast unbemerkt das Bühnchen betreten und holt uns mit bluesgeerdetem, leicht kratzigem, aber doch sehr weiblichem Organ und einer umwerfenden (optischen) Erscheinung wieder zurück in die süße Realität.
Okay, ein vermeintlicher Musikkritiker sollte sich wahrhaftig nicht mit Äußerlichkeiten abgeben, aber sorry, ich muss zugeben, ob der Nähe des Geschehens in diesen kleinen Räumlichkeiten bin ich fasziniert, geblendet, positiv überrascht, abgelenkt, sucht es euch aus.
Burg Herzberg war selbstredend deutlich weiträumiger und Sanya damals brandneu dabei. Entsprechend fehlte ihr etwas die Präsenz auf der Bühne.
Dies ist nun am heutigen Abend vollkommen anders. Sie windet sich schier durch einige Songs, wie eine Schlange, immer auf der Hut, lässt es mal erotisch schnurren, dann wieder rockig explosiv heulen und gewinnt so den Songs im Vergleich zu den Einspielungen auf "A New Day Dawning" vollkommen andere Facetten ab.
Und dann diese Augen! Ein glühender Vulkan in einer Person, die mensch fälschlicherweise für etwas schüchtern halten könnte, drückt sie sich doch bei den langen instrumentalen Passagen nahezu unsichtbar an den äußersten Bühnenrand bzw. verlässt diese ganz.
Ich muss es einfach zugeben, ich bin hin und weg, zu einer objektiven Berichterstattung nicht mehr in der Lage. Es gibt nicht wenige Stimmen, die den etatmäßigen Sänger und Organisten der Band, Oskar Lundström, sehr vermissen. Verfügt dieser doch, wie auf dem bisher einzigen Studioalbum nachzuhören, über eine fantastische R&B-Röhre. Außerdem wären dann auch mal gleichzeitige Orgel- und Gitarrenparts möglich. Ich persönlich votiere mit allem was ich habe (was habe ich eigentlich?) für einen zukünftigen Fünfer, also mit Oskar und Sanya. Dann nämlich könnte aus dieser Band das Größte werden, was mir derzeit einfällt.
So begebe ich mich nach meinen, inzwischen mit etwas zittrigen Händen geschossenen Fotos, auf einen geradezu transzendenzalen Trip, zu dem Siena Root offenen Armes einladen. Welcher Song gerade gespielt wird erscheint vollkommen unwichtig, was zählt ist der hypnotisch groovende Bass, die ökonomischen gitarristischen Sperrfeuer von KG West, der in seinem Spiel immer noch stark an einen jungen, zurückgenommenen Eric Clapton erinnert, ohne allerdings dessen Virtuosität und Einmaligkeit im Ton erreichen zu können, Love trommelt einen unwiderstehlich kraftvollen, rhythmischen Beat, auch wieder bei aller Jam-Ambition ausgesprochen ökonomisch, so dass womöglich ein Ginger Baker hier als Bezugsgröße genannt werden könnte, der sich allerdings in früheren Zeiten auch gerne mal vergaloppierte. Dies verkneift sich Love löblicherweise, genauso wie er sich leider den ausführlichen Einsatz seiner brennenden Drumsticks etwas verkneifen muss. Vermutlich wegen Brandschutzbestimmungen in geschlossenen Räumen.
Dafür verkneift sich Sam seine Geigenbogeneinlage nicht und speziell im intensiven, hitzig schwülen "Fever" reift Sanya für mich zur Göttin heran.
Liebe Leute, hier nützt das ganze Sezieren musikalischer Einflüsse aus der Vergangenheit gar nichts. Es greift einfach nicht, denn im Prinzip spielen Siena Root einen kosmologischen Transzendenz - Bluesrock, langsam fließend wie Lava, manchmal eruptiv wie ein feuerspeiender Vulkan (aha, deshalb also die brennenden Drumsticks) und manchmal irdisch rockend.
Der Epilog:
Ich kann nur hoffen, dass wir diese Band in Deutschland noch häufiger erleben dürfen, und dass sich weiterhin so engagierte Enthusiasten wie die Jungs von 'Rock This Town Concerts' oder unser 'Spreewald-Torsten' (u.a. RockTimes-Gastschreiber und Organisator des jährlichen Treffens der 'Deutschen Southern Rock Liste') um solche Bands kümmern.
Immerhin führte die Kooperation der Genannten zu einem geplanten Siena Root-Gig am 15.10.2005 in Reitwein (Spreewald). Wenn das nichts ist?!
Und wer einigermaßen in der Nähe wohnen sollte: Unbedingt hingehen!!!
Bilder vom Konzert
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