Unglaublich: Französischer Noise-Rocker trifft im Urlaub auf einer Insel vor Goa einen 68-jährigen einheimischen Kneipen- und Straßensänger mit Faible für alte amerikanische Showmusik, nimmt was von ihm auf, unterlegt das daheim mit seinen Kumpels mit eigenen Sounds, veröffentlicht das Ganze - und findet Beachtung in der professionellen Szene. Mit erheblichen bürokratischen Schwierigkeiten wird dann der alte Slow Joe aus Indien, das er zuvor noch nie verlassen hatte, im Dezember 2009 zum berühmten Transmusicales Festival nach Rennes in Frankreich geholt. Zum ersten Mal auf einer Bühne, begleitet von den Rockern um seinen Entdecker Cedric de la Chapelle, die sich dafür Ginger Accident nennen, begeistert der kleine unrasierte Crooner mit dem verknitterten Anzug die Zuhörer. Damit wird die Bahn frei für ein reguläres Album, das mit den bisherigen Musikern aus Lyon 2011 unter dem Titel "Sunny Side Up" aufgenommen und im Herbst in Frankreich veröffentlicht wird. Mit soviel Kritiker- und Verkaufserfolg, dass es nun auch bei uns erscheint.
Nix Bollywood - eine wahre schöne Geschichte aus dem richtigen Leben! (Jedenfalls wird das so auf diversen Internet-Seiten der Beteiligten erzählt.) Und für ein paar Gigs war die Truppe grade auch in Deutschland unterwegs, derzeit tourt sie in Frankreich.
"Sunny Side Up" ist so ziemlich das Abgefahrenste, was mir in den letzten Monaten in den Player gekommen ist. Eine durchgeknallte Mischung, die genau da weitermacht, wo sich die Popmusik vor Jahrzehnten in den reinen Kommerz verabschiedet hat. Verrückte Sounds, schräge Melodien, Drive, dazu jede Menge Einfallsreichtum im Studio und Spaß auf der Bühne. Große Klasse, wie das die französische Truppe mit ihrem in jeder Hinsicht exotischen Leadsänger hinbekommen hat! Motown trifft London Beat,
Frank Sinatra wird von den
Animals begleitet, R&B kommt psychedelisch daher,
Buddy Holly rockt zu seltsamer Folklore und
Bobby Darin meldet sich aus dem Nirwana zurück. Das könnte gradewegs aus den hippen Spätsechzigern stammen, was gleichfalls auf den Klang zutrifft. Neben dem obercoolen
Slow Joe, dessen variablen Gesang auch ein leichtes Lispeln (neues Gebiss fällig?) nicht stört, sind es vor allem die extrem retro klingenden Instrumente. Die Gitarren mit viel Hall und Twang, der Bass, der wie ein fränkisches Halbakustikerzeugnis der Gründerzeit knarzt, ein Schlagzeug, das nur gekonnt begleitet und dann dieses typische Sixties-Georgel, hauptsächlich wohl von einer Farfisa.
14 Songs wie aus einer anderen Zeit (geschrieben von Mr. Joe); allerdings sind nur die Zutaten von gestern, so wie sie miteinander vermischt sind, wurden daraus absolut spannende und topaktuelle Kreationen, die den Soundtrack für sämtliche Parties dieses Sommers von Grönland bis nach Feuerland liefern könnten. Das gekonnte Jonglieren mit den Stilen ist umso verwunderlicher, als Arrangeur Cédric de la Chapelle allein vom Alter her mit diesen musikalischen Welten nichts zu tun haben kann.
Beispiele gefällig? "Money Mama" hört sich an wie ein Motown-Klassiker, angefangen von der Wha Wha-Gitarre, über den üppigen Background-Chor bis zum Grand Finale mit Glockenschlägen. Mit "Cover Me Over" werden die großen Gefühle mit Streicher- und Bläserarrangements beschworen, ein glorreicher Schmachtfetzen wie aus einem Hollywood-Klassiker. Bei "Long Long Walk", "Just One Touch" oder "Give Me Your Love" hören wir die jungen Kings des Rock'n'Roll. "Brunette Blond" könnte gradewegs von
Them stammen, Westcoast-Psychedelic ist bei "Inside Of Me" angesagt. "Back Home Soon" erfreut die Western-Fans. Auch das indisch gesungene "Ab Kahan Yaheh Hum" reiht sich da gut ein.
Fast alles passt an diesem abgedrehten Album. Nur dieser bewusst verrauschte Vintage-Sound ist nicht nach meinem Geschmack. Trotzdem - schwere Empfehlung, nicht nur für die nächste Feier!