Chrome Dreams hat mir diese DVD direkt aus England zukommen lassen (mein ausdrücklicher Dank an Melanie). Und hier wird ziemlich anschaulich klar gemacht, was es bedeutete, 1965 eine "Mod'-Band zu sein, die im gleichen Atemzug mit den Who genannt wurde und die Entwicklungen nicht nur mitmachte, sondern eine Vorreiterrolle spielte.
Drei Jahre Mitte der 60er. Die einzige Konstante war Veränderung, in gesellschaftlichen und vor allem im musikalischen Geschehen. Die Small Faces kamen aus dem damals soziologisch deutlich im eigenem Rhythmus tickenden Londoner East End, dem Arbeiterviertel mit dem Dreck der Docks und schäbiger Sozialwohnungen.
Heute ist dort fast durchgehend renoviert, die rote Laterne tragen nach wie vor die abschätzig als 'South of the River' bezeichneten Stadtteile südlich der Themse. Das konnte ich (leider) in 2003 während meines letzten Besuchs der Stadt nochmal bestätigen. Aber das inzwischen schön renovierte East End hat einen für das Sozialgefüge enormen Preis bezahlt: Die Immobilienspekulanten haben fast die gesamte Arbeiterschaft durch horrende Mieten vertrieben!
Die sich Ende der 50er in Südengland (und allen voran eben im Londoner Osten und Süden) entwickelnde 'Mod'-Bewegung der Arbeiterjugend basierte auf einem 'Lifestyle', der von Modebewusstsein geprägt war. Die 'Mods' trugen teuere Kleidung, die sie typischerweise mit ihren Parkas darüber schützten und fuhren, wenn finanziell möglich, Motorroller - Vespas und Lambrettas - die sie meist mit Spiegeln und Lampen aufgemotzt hatten.
Seltsamerweise sind beide Erscheinungen auf England beschränkt geblieben. Wir Jugendliche in Kontinentaleuropa (und auch die in den USA) übernahmen erst ab etwa 67/68 die für damalige Zeiten fast surreale, flippige Kleidung, die dann ein Synonym für die 'Swingin' Sixties' wurde. Die Mode der unscheinbaren, zu jener Zeit aber absolut angesagten 'In'-Einkaufsgasse Carneby Street in Soho in unmittelbarer Nähe des Piccadilly Circus war plötzlich überall verfügbar.
Die Straßenschlachten der 'Mods' mit den motorradfahrenden 'Rockers' in ihren Lederjacken sind legendär (besonders bekannt geworden ist deren Aufeinandertreffen 1964 im Seebad Brighton, das dadurch ziemliche Verwüstungen erlitt) und wurden 1973 von den Who in der Rock-Oper "Quadrophenia" in Musik und Albumdesign eindrucksvoll manifestiert.
Aber der Ursprung der 'Mods' war Musik. Schwarze Musik. Soul. R&B. Ska. Und noch etwas anderes gehörte untrennbar dazu - nämlich Drogen - hauptsächlich in Form von Amphetaminen.
Genau an diesem Punkt kommt diese DVD ins Spiel und präsentiert sich als eine Dokumentation par excellence über die Band, ihre Songs und einen Abriß über die drei Jahre von 1965 bis 1968, in denen die Small Faces die Szene (mit-)beherrschten.
Als Kommentatoren durch die DVD fungieren Freunde und Weggefährten wie der bekannte Rock-Autor Chris Welsh (der aussieht wie ein pensionierter Schuldirektor - that's Rock'n'Roll oder was?), der 'New Musical Express'-Ikone Keith Altham, dem Steve Marriott-Biographen Paolo Hewitt und anderen und alle posieren recht stolz vor einem Union Jack Backdrop...
Eingefangen wurde all dies in kurzen s/w-Livesequenzen, Video- und Promo Clips. Wie beliebt diese Band vor allem auch in Deutschland war, belegt die Tatsache, dass viele (eigentlich die meisten) Live-Auftritte dieser DVD aus der Prä-Uschi Nerke-Ära des Beatclubs im Studio Hamburg auf Zelluloid gebannt wurden.
Nochmal, um Missverständnissen vorzubeugen: In den 9 Titeln sieht man nicht durchgehend die Band, sondern sie werden immer wieder von Interviews und Clips unterbrochen - aber gerade das macht Spaß. Der Informationsgehalt leidet nicht darunter, eher im Gegenteil. Da mir nur die vom Hersteller zur Verfügung gestellte Originalausgabe vorliegt, kann ich nicht sagen, ob in einer deutschen Version noch übersetzte Untertitel verfügbar sein werden. Aber wer des Englischen ein bisschen mächtig ist, kann sicher verstehen was gesagt wird und jede eingeblendete Kurzübersetzung würde dem Ganzen auch seinen Sinn nehmen.
Ich möchte die Geschichte dieser großen Band an Hand der DVD skizzieren. Als Einstieg gibt's zuerst mal einen Blick auf den Komiker Sir Stanley Unwin, der mit seiner verdrehten Sprache wirklich unnachahmlich alles einläutet. Fans werden sich erinnern: Er war der Moderator mit dem unglaublichen Humor, der die Geschichte von "Happiness Stan" kommentierte, die die ganze zweite LP-Seite von "Odgen's Nut Gone Flake" füllte.
Nach ein paar Bildern der J60 Music Bar, in der sich Steve Marriott und Ronnie Lane - beide Teenager zu dem Zeitpunkt - zum ersten Mal begegnet sind, kommen auch schon die Livesequenzen aus 1965, bei denen man wehmütig nachvollziehen kann, wie stark diese Jungs den R&B draufhatten ohne überhaupt richtig eingespielt zu sein. Oder sollte man besser sagen, geklaut hatten? "What'cha gonna do about it" ist sowas von dermassen Booker T & the MGs und wurde auch sofort ein Hit! Aber auch andere haben bei den Small Faces geklaut...der junge Robert Plant hat bestimmt bei "You need lovin' konzentriert zugehört, so dass er drei Jahre später auf dem Led Zeppelin-Album "Led Zeppelin II" einen Teil des Gesangs von Steve Marriott in "Whole lotta Love" direkt nachahmt.
Der Nachfolger "I got mine" - eher düster - floppte. Der berühmt-berüchtigte Don Arden, bei dem die Jungs unter Vertrag waren, brachte Songschreiber von ausserhalb. Das Ergebnis war "Sla La La Lee" und wurde, obwohl von der Band selbst gehasst, wiederum ein Verkaufsschlager. Allerdings wandten sich die 'Mods' ab, dafür würden sie von neuer weiblicher Klientel angehimmelt, die bei den Konzerten in regelrechte schreiende Hysterie verfielen. Das war das genaue Gegenteil, was gewollt war, die Small Faces wollten eine rauhe R&B-Band sein.
Zur Zeit, als sie das erste Album für Decca aufnahmen, bezogen sie in Westmoreland Terrace ein Haus und ersetzten den Keyboader durch den mehr als passenden Ian McLagan - Spitzname: 'Mac'. Das Album war erfolgreich und eine Wanderung zwischen reinem Pop und schwerem R&B. "All or nothing" beispielsweise war einer der Kompromiss-Songs, die sowohl das Management als auch das Selbstwertgefühl bedienten. Wieder gelang es ihnen, damit ein Hit zu landen und da dieser Song selbstgeschrieben war, konnte ihnen Arden nicht nochmal irgendwelche Schreiber von ausserhalb aufzwingen. Der Liveausschnitt auf dieser DVD lässt einen erfahren, wie dieser noch nicht 20-jährige Steve Marriott einen Vokalpart vorlegte, als sei er erstens ein Schwarzer und zweitens mindestens doppelt so alt. Hervorragende Performance!
Aber der konstante Druck, alle drei Monate eine Hit-Single produzieren zu müssen, veranlasste die Band, Decca und Arden zu verlassen und zum Immediate-Label des Rolling Stones-Managers Andrew Loog-Oldham zu wechseln. Der war viel entspannter und ließ die Small Faces in Ruhe an ihrem Sound basteln. Ausserdem waren ganz andere Vibes im Umfeld zu spüren, nämlich weg von Soul, weg von R&B und Amphetaminen hin zu Hippieklängen mit bisher ungehörter psychedelischer Grundausrichtung und neuen Drogen: LSD. Der erste Song dieser Ära war "Here comes the Nice" - der mit seinen Drogenreferenzen auch gleich von der BBC gebannt wurde. Die Small Faces haben im Gegensatz zu anderen Bands erst gar nicht den Versuch unternommen, um den heißen Brei herumzureden und gleichzeitig etablierten sie sich damit in der neuen, ernstzunehmenden 'Hip'-Kultur zwischen den Beatles und Bob Dylan.
Eine weitere wichtige Änderung war die Tatsache, dass nun das Zeitalter der Studioexperimente angebrochen war und bei Immediate bekam die Band jede Gelegenheit zu tun, was sie wollte (zeitgleich produzierten die Beatles "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band"). Damit gab es auch weniger - wesentlich weniger - Bühnenpräsenz zu Gunsten ausgefeilter Klangkollagen, die sowieso live wegen der verwendeten Tricks und Studiotechnologien immer weniger aufführbar wurden.
In den Sixties war es Usus, Singles zu produzieren, die nicht gleichzeitig auf den LPs erschienen. Ihr erster Longplayer für Immediate enthielt dann auch nicht den nächsten Hit "Itchycoo Park" - mit seinen durch einen Phaser gejagten Klängen war dies wiederum ein Song, der unverhüllt Drogenanspielungen enthielt (...what did you do there? ... I got hi-high ...) und prompt erst mal wieder auf dem Index der BBC landete.
Dies ist wohl DER klassische psychedelische Song jener Zeit (zusammen mit "Pictures of Matchstick Men" von Status Quo ein Jahr später) und ganze Herden von Interpreten haben ihn immer wieder gecovert, ohne je das Original zu erreichen. "Itchycoo Park" bringt heute noch jeden über-50-jährigen zurück in diese Zeit, da man sich daran erinnert, wie dieser Hammer-Hit den ganzen Sommer '67 im (nicht-englischen) Radio lief. Peter Whitehead, der damals auch Pink Floyd auf Film verewigte, hat dazu ein Musikvideo produziert, wohl eins der ersten der Pop/Rock-Geschichte, das auf der DVD auszugsweise zu sehen ist.
An Weihnachten 1967 kam dann einer der besten Songs, die Steve Marriott je aus der Feder geflossen ist. "Tin Soldier" ist für mich persönlich auch einer meiner absoluten Lieblinge aller Zeiten. Schon die Guitar-Licks zu Beginn lassen seine unverkennbare Handschrift erkennen. R&B und Soul zum Entzücken der alten Fans war die Basis, aber hier hört man auch die Geburtswehen einer Musik, für die damals ein Ausdruck noch nicht so richtig existierte: Rock!
Nicht nur Cream und Co., auch die Small Faces waren an der Speerspitze des gerade eingeläuteten neuen musikalischen Zeitalters! Kenney Jones haut auf die Felle, als gebe es kein Morgen mehr...der DVD-Ausschnitt der entsprechenden Liveaufnahme zeigt auch die äusserlichen Veränderungen: Weg vom durchgestylten 'Mod-Pop' hin zu langen Haaren. Genau dieser Zeitpunkt war auch der Anlass für den Rezensenten, (erfolgreich) dafür zu kämpfen, seinem Frisör Einkommenseinbußen zu bescheren. Ich hatte zum Glück Eltern, die mehr als nur tolerant waren!
Der nächste Geniestreich war "Lazy Sunday". Paolo Hewitt sagt im Interview, dass es zuvor eine Stellungnahme eines Mitglieds der Hollies (eine mehr als bekannte Größe damals) gab, der Steve Marriott vorwarf, zu sehr amerikanisch zu singen und das englische zu vernachlässigen. Steve hatte hier die passende Antwort, "Lazy Sunday" ist wohl mit im breitesten Cockney-English gesungen, das je auf Platte gepresst wurde. Auch zu diesem Song gibt es einen Videoclip zu bestaunen, der im typischen Small Faces-Humor rüberkommt...die besungene Mrs. Jones beschwert sich über die laute Musik...wie im richtigen Leben, wenn Steve nachts um drei Uhr die Anlage aufdrehte und die Nachbarn gegen sich aufbrachte. Dieser Song ist wohl der bekannteste, den die Band veröffentlicht hat (und gehört in jeden Haushalt!)
Mit "Lazy Sunday" als letztem Song auf der ersten Seite erschien 1968 "Odgen's Nut Gone Flake" - eine LP, die in Musik und Design (das erste runde Cover, das je auf die Verkaufsstände losgelassen wurde und das einer Tabakdose der berühmten englischen Marke "Odgen's Nut Brown Flake" nachempfunden war) richtungsweisend war und heute nur noch als legendär zu bezeichnen ist. (Und ich will hinzufügen: die als CD-Remaster in klanglich toller Überspielung erhältlich ist) - wer diese Platte nicht kennt, versteht auch die Entwicklung von Pop zu Rock nicht!)
Als 'Konzeptalbum' war dies eine der neuen Ideen der Zeit (was sich aber auf die zweite LP-Seite beschränkt) - eine Geschichte über 'Happiness Stan', der nach der nicht sichtbaren Seite des Mondes sucht. Die Platte ist ein Gemisch aus R&B, Pop, Folk und Rock, das auch heute noch nichts von seinem Charme verloren hat und nie verlieren wird - die nachfolgenden Generationen werden es auch irgendwann entdecken so wie es Leute entdeckt haben, die 1968 erst geboren wurden. Obwohl denen der Zusammenhang zwischen dieser Musik und dem zugehörigem Zeitgeist nicht ersichtlich sein kann, wird die Platte immer das bleiben, was sie ist: ein Gesamtkunstwerk.
"The Universal" war die letzte Single der Small Faces, ein Song, den Steve nach dem immensen Erfolg der LP teilweise im Garten auf einem Cassetten-Recorder aufgenommen hat. Sein Hund Seamus bellt im Hintergund und auch sonst war dies eine eher 'hippie-low-fi' Angelegenheit. Es war sein musikalischer Standpunkt an diesem Punkt. Er wollte Peter Frampton von The Herd integrieren, aber der bekannte Produzent Glyn Johns erinnert sich an interne Machtkämpfe, die dann das Ende bereitet haben. An Silvester 1968 während eines Konzerts im Alexandra Palace in London schmeisst Steve Marriott nach dem zweiten Song im wahrsten Sinne des Wortes die Gitarre auf die Bühne und haut ab.
Obwohl auch danach gerade von Steve noch zu vernehmen war, er wolle die Band nicht verlassen, hat er sich der eigentlich von ihm selbst für Frampton zusammengestellten Formation angeschlossen, in die er Greg Ridley von Spooky Tooth mitnahm: Nichts geringeres als die als Supergroup gehandelten Humble Pie.
Die anderen 'kleinen Gesichter' wandelten sich mit dem Schotten Rod Stewart und dem Party-Tier Ron Wood zur nun nur noch "The Faces" genannten Truppe, die, wie wir alle wissen, ebenso erfolgreich war.
Steve Marriott und Ronnie Lane sind schon lange verstorben, ein derber Verlust für die Musikwelt. Kenney Jones hat zeitweise bei den Who angeheuert und ist heute mehr oder weniger inaktiv. Ian McLagan verdingte sich nach dem Split der Faces als Studiomusiker und hat ab 1979 bis heute drei eigene Platten produziert. Vor kurzem erschien seine Autobiographie.
Man findet auf der DVD noch ein nicht einfach zu lösendes Quiz, das durchaus Spaß macht und die Diskographie der Band. Insgesamt aber ist die Bedienung umständlich, es sei denn, man lässt einfach den Film laufen. Trotzdem, im geringen Angebot, das es über Small Faces gibt, ist diese DVD sicher ein besonderes Juwel. Fans, die mal wieder in 'ihre' Zeit abtauchen wollen, werden prächtig bedient. Klar, mit den neuesten Audio-Technologien kann diese Scheibe nicht aufwarten, darauf kommt es aber gar nicht an! Dafür gibt es etwas, das unbezahlbar ist: Eigene Erinnerungen!
Technik: Stereo Sound Mix - Bild: 4:3, Kein Regionalcode (überall abspielbar)
Spielzeit: ca. 60 Min., Medium: DVD, Chrome Dreams Media Products, 2005
1:The Early Faces 2:What'cha Gonna Do About It 3:Sha La La La Lee 4:All Or Nothing 5:I Can't Make It 6:Here Comes The Nice 7:Itchycoo Park 8:Tin Soldier 9:Lazy Sunday 10:The Universal
Extras:
Small Faces Quiz, Diskographie, Vorschau auf Steve Marriott Memorial Concert
Manni Hüther, 08.11.2005
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