Tiamat / Wildhoney
Wildhoney Spielzeit: 42:08
Medium: CD
Label: Century Media, 1994 (remastert 2001)
Stil: Gothic Metal


Review vom 02.12.2009


Andrea Groh
Tiamat ist die babylonische Urmutter-Gottheit, der Ur-Ozean, häufig als Wasserschlange dargestellt, teilweise auch als Drache. Sie ist das Salzwasser, ihr Gemahl Absu das Süßwasser. Aus diesen beiden gingen alle Gottheiten hervor, die aber irgendwann rebellierten und im Kampf spaltete Marduk Tiamat in zwei Hälften, aus denen Himmel und Erde wurden.
Eine interessante Sage und ein sehr schöner Name, das dachte sich wohl auch der junge schwedische Musiker Johan Edlund und nannte 1989 seine Band so, nachdem er vorher den zwar ebenfalls klanglich schönen, jedoch geschmacklosen, weil geschichtlich belasteten Namen Treblinka ausgesucht hatte.
1990 erschien das Debüt mit dem passenden Titel "Sumerian Cry" (die Sumerer waren das älteste überlieferte Volk in Mesopotamien, die Babylonier ihre Nachfolger), auf dem schleppender atmosphärischer Death Metal gespielt wurde, der einige wirklich interessante Momente bot, die aber nur andeuteten, was noch kommen sollte.
1991 folgte "The Astral Sleep", die seitdem nicht nur zu meinen persönlichen Lieblings-Platten aller Zeiten gehört, sondern auch neue Impulse einbrachte und heute mit zu den Ursprüngen des Gothic Metals gezählt wird. Denn dort wurde eine faszinierende Mixtur aus Death Metal-Elementen, akustischen Parts, Chören, Flüsterstimme und Bombast geboten - abwechslungsreich, innovativ, gefühl- und stimmungsvoll. Ich könnte stundenlang davon schwärmen, doch die Geschichte Tiamats geht noch weiter.
1992, mit "Clouds", orientierten sich Johan und seine Mitmusiker laut eigener Aussage an 70er-Rockmusik. Die Death Metal-Elemente traten weiter in den Hintergrund, es wurde noch atmosphärischer und gleichzeitig rockiger. Ebenfalls eine wunderschöne Veröffentlichung, die ich bis heute liebe.
1994 war dann der Höhepunkt in der Karriere Tiamats: "Wildhoney" heißt das Album, das wieder einen Schritt weiter ging, psychedelische Elemente mit einbrachte, Naturgeräusche, instrumentale Zwischenspiele, melancholische Gitarren; manchmal rockig-heavy, manchmal eher soundtrackartig wirkte und über einen unglaublichen Facettenreichtum verfügte, vor allem auf der emotionalen Ebene. Ein Meilenstein, bei dem jeder Song einzigartig ist, was auch für die vier Instrumentalstücke gilt, die das Gesamtklangbild positiv erweitern.
Mein Lieblingslied darauf ist "Gaia", wobei ich folgendes bemerkenswert finde: Gaia war in der griechischen Mythologie die Urmutter Erde. Aus ihr und dem Himmelsgott Uranos gingen alle Götter hervor, die irgendwann die Ureltern entthronten, was wieder an die eingangs erwähnten babylonischen Sagen und die mythologische Tiamat erinnert.
Gaia gefiel wohl nicht nur mir, daher erschien es auch als EP, welche den Videoedit des Songs enthält, außerdem mehrere Remixe und eine Pink Floyd-Coverversion: "When You're In". Auf der remasterten "Wildhoney"-Version von 2001 sind diese Songs mit dabei, außerdem eine zweite CD mit Live-Aufnahmen und Videoclips.
Aber auch das dort in zweifacher Ausgabe vorhandene "The Ar" mit seinen Bombast-Parts ist grandios, das melancholisch-verträumte "A Pocket Size Sun" und alle anderen Songs auf ihre Weise auch. Die Größe von "Wildhoney" in Worte zu fassen ist schwierig. Die CD lädt ein zu einer Reise in Träume und Vorstellungen von Johan Edlund, wie er selbst so schön in "Visionaire" singt: »I am the visionaire / Follow me if you dare...«
Der Weg von Tiamat ist gekennzeichnet durch einen guten Anfang, gefolgt von drei hervorragenden Veröffentlichungen mit konsequenter musikalischer Weiterentwicklung; alle drei übrigens mit lesenswerten tiefsinnigen poetischen Lyrics und großartigen Coverartworks von Kristian Whalin, doch bei "Wildhoney" war der Zenit erreicht.
"A Deeper Kind Of Slumber", die erst 1997 erschien, war psychedelischer als je zuvor, wirkte verloren, gebrochen, verzweifelt, ihr fehlte die majestätische Schönheit der Vorgänger. Auch wenn manche sie lobten, ich fand sie enttäuschend und alles was folgte noch mehr.
Keine Sternstunden mehr, netter Gothic Rock / Gothic Metal, nicht schlecht, aber in keinem Verhältnis stehend zu "The Astral Sleep", "Clouds" und "Wildhoney". Somit war letztere nicht nur der Höhepunkt in der musikalischen Geschichte von Tiamat, sondern auch der Wendepunkt. Leider.
Trotz dieses Wermutstropfens scheint "Wildhoney" wie eine strahlende Sonne, das dritte Meisterwerk in Folge, eine CD, die nicht nur die Grenzen des Death Metals hinter sich ließ, sondern auch aus der Schublade Metal heraus ragt. Somit können selbst Rock-Fans, die diesen Sparten kritisch gegenüber stehen hier ohne Bedenken reinhören, Metal-Fans und Gothic Metal-Anhänger sowieso.
1994 war vielleicht der klassische Metal in der Krise, aber in Schweden blühte eine wundervolle Sonnenblume, deren Songs sich wie Insekten in die Luft erhoben.
Line-up:
Johan Edlund (guitar, vocals)
Johnny Hagel (bass)
Lars Skjöld (session drums)
Magnus Sahlgren (session lead guitar)

Guest musicians:
Waldemar Sorychta (keyboards)
Birgit Zacher (additional vocals)
Tracklist
01:Wildhoney (00:53)
02:Whatever That Hurts (05:49)
03:The Ar (05:04)
04:25th Floor (01:50)
05:Gaia (06:28)
06:Visionaire (04:19)
07:Kaleidoscope (01:20)
08:Do You Dream Of Me? (05:07)
09:Planets (03:13)
10:A Pocket Size Sun (08:05)

Gaia-EP /Bonus der Version von 2001:
01:Gaia (video edit) (03:45)
02:The Ar (radio cut) (03:24)
03:When You're In (Pink Floyd cover) (05:49)
04:Whatever That Hurts (video edit) (04:19)
05:The Ar (ind. mix) (02:27)
06:Visionaire (remixed long form version) (04:54)

CD 2 der 2001 Version:
01:Whatever That Hurts
02:The Ar
03:In A Dream
04:25th Floor
05:Gaia
06:Visionaire
07:Kaleidoscope
08:Do You Dream Of Me?
09:The Sleeping Beauty
10:A Pocket Size Sun
11:Whatever That Hurts (Video) (Data Track)
12:Gaia (Video) (Data Track)
13:The Ar (Live Video) (Data Track)
Externe Links: