Ton Steine Scherben / IV
IV Spielzeit: 46:30 (CD 1), 44:34 (CD 2)
Medium: Do-CD
Label: David Volksmund Produktion, 1981
Stil: Deutsch Rock


Review vom 05.12.2011

    
Markus Kerren
Ganz sicher war es unter anderem auch ein Fall von 'Die Geister, die ich rief', aber dennoch hatten die Mitglieder von Ton Steine Scherben spätestens 1974 so dermaßen die Schnauze voll davon, sich vor den Karren der politischen Linken Berlins spannen zu lassen, dass sie beschlossen, abzuhauen. Nachdem die Truppe in diesem Jahr in Hamburg noch ihr drittes Album "Wenn die Nacht am Tiefsten..." (erschienen 1975) aufgenommen hatte, wurden alle Sachen gepackt und es ging in den Hohen Norden, wo man in einem kleinen Dorf einen abruchreifen Bauernhof gekauft, bzw. sich das Geld zum Kauf geliehen hatte.
Die bereits erwähnten Geister, die die Band gerufen hatte, bestanden aus ihren ersten beiden Alben "Warum geht es mir so dreckig" (1971) und "Keine Macht für Niemand" (1972), die auf der einen Seite vor (links-) politischen Parolen nur so strotzten und sicherlich zu einem großen Teil auch dem eigenen Verständnis entsprachen, auf der anderen Seite aber auch zu großen Teilen Auftragsprodukte waren. Nachdem die Scherben erstmal in diesen Zug eingestiegen waren, bemerkten sie ganz flott aber auch die Nachteile dieser Geschichte. Auf Tourneen durch die Republik wurde die Band als 'selbstverständlich', da 'für die Sache' und 'am Geld nicht interessiert' wahrgenommen. Der Punkt, ein Linker zu sein und für so 'niedere Dienste' wie etwa Musik auch noch Geld zu verlangen war in etwa so aussichtslos, wie einem Vampir zu erklären, dass Tomatensaft doch eigentlich auch ganz okay ist und dann auf sein Verständnis zu hoffen.
Die Folge: Minimale Eintrittspreise, zugunsten eines Hotelzimmers quartierte man die Band in irgendeiner WG ein, wo sich die Musiker nach dem Auftritt dann die ganze Nacht noch an nicht enden wollenden politischen Diskussionen beteiligen 'durften' und dass nach jeder Tour finanzielle Verluste, Schulden, Schulden und noch mehr Schulden aufliefen. Dazu kamen dann immer mehr Führungspersonen der politischen Linken, die den Songwritern (Rio Reiser und dem chronisch unterbewerteten Gitarristen R.P.S. Lanrue) vorschreiben wollten, welche Art von Musik (bzw. Texte) geschrieben werden müssten und darüber hinaus noch, was als Scherben-Musik jetzt aber wohl überhaupt nicht in die Tüte kommen würde. Irgendwann war's halt genug, das Fass lief schon lange über und die Band flüchtete regelrecht so weit weg von Berlin, wie es eben möglich war.
Wie dem auch sei, die zweite Hälfte der Siebziger waren für die Band verlorene Jahre. Jeder machte irgendwas, um wenigstens ein bisschen Kohle zum Überleben rein zu bekommen. Speziell Rio und Lanrue waren als Songwriter (u.a. für das schwule Kabarrett-Projekt Bruehwarm) gefragt, andere machten 1976 Musik zur Unterstützung des SPD-Wahlkampfs in Berlin usw. usw. Nur, auf einen grünen Zweig kam man in Bezug auf die Band nicht...
1980 wurde dann endlich beschlossen, die nächste Scherben-Platte in Angriff zu nehmen. "IV" wurde sie letztendlich betitelt und dieses Doppel-Vinyl (bzw. -CD) ist für mich schlicht und ergreifend die beste Deutschrock-Platte, die jemals erschienen ist. Sowohl musikalisch wie auch textlich werden hier die unterschiedlichsten Thematiken bedient, ohne das Ganze jemals uneinheitlich oder zerfahren wirken zu lassen. Mit "Jenseits von Eden" oder "Alles ist richtig" (um nur mal zwei zu nennen) wurde kraftvoller Rock zelebriert, manchmal (wie bei "Heimweh") wird es wavig, auf "Kleine Freuden" ertönt eine spanisch angehauchte Solo-Gitarre und ganz allgemein wurde auch sehr viel experimentiert.
Als ich dieses Werk damals im zarten Alter von 15 Jahren kennenlernte und in Dauerrotation laufen ließ, wurde ich vor allem auch von den Texten (die nahezu allesamt heute noch so aktuell sind wie vor dreißig Jahren) stark geprägt. Von Vergangenheitsbewältigung ("Jenseits von Eden"), einem noch im Mutterleib befindlichen Leben den Ratschlag zu geben, auf dieser Welt lieber erst gar nicht aufzutauchen ("Bleib wo du bist"), über einen sarkastischen wie etwas bitteren Blick auf die damals aktuelle politische wie soziale Lage ("Der Turm stürzt ein"), unglücklichen Liebesbeziehungen ("Ebbe und Flut", "Filmkuss") bis hin zum tiefen Eintauchen in das eigene Seelenleben ("'s is' eben so", "Kribbel Krabbel", "Niemand liebt mich"), hier ist nicht nur alles geboten, sondern wird auch noch hochinteressant dargebracht.
Und das in einer oft sehr abstrakten Sprache, sodass mir heute wie auch vor knapp dreißig Jahren bei so einigen Songs nicht unbedingt klar ist, was mir Rio Reiser da gerade sagen will. Was die ganze Chose somit noch mysteriöser und faszinierender macht(e). Es gibt zwar heutzutage wesentlich mehr Erklärungen zu diesen Lyrics und auch deren Entstehungsgeschichte (die in enger Verbindung mit Tarot-Karten steht) wurde mittlerweile in Kai Sichtermanns Buch "Keine Macht für Niemand" enthüllt, was aber (wie z.B. bei "Sumpf Schlock") noch lange keine imaginäre Lichtbirne im Hirn des Hörers aufleuchten lassen muss.
Die 'Schwarze' ist ein einzigartiger Trip sowohl nach Fresenhagen wie auch Berlin, dazu in das intime Seelenleben der Protagonisten (bzw. Rios, als Haupttexter). Alleine deshalb schon wäre es nicht richtig, hier den einen oder anderen Song besonders hervor zu heben. Ein Novum war der Fakt, dass sich für dieses Werk auch Bassist Kai Sichtermann und Drummer 'Funky' Götzner (in begrenztem Maße) ins Songwriting einbringen durften, was sich durchaus als Bereicherung herausstellte.
Nach wie vor haftet dieser Doppel-Scheibe weitläufig der Tadel an, einen furchtbaren Sound zu haben. Für mich ist er genial, da bei jeder anderen, perfekteren oder glatt gebügelteren Produktion das besondere Flair, die alles umfassende, besondere Atmosphäre der Tracks verloren gegangen wäre.
Alle, die auch nur einen Funken Interesse an Deutschrock haben, sollten dieses Album besitzen. Wer es schon im Schrank stehen und fast wieder vergessen hat, sollte sich schleunigst ans Entstauben machen und noch mal ganz intensiv reinlauschen! Und ich wiederhole mich gerne: Für mich gibt es kein besseres und geileres Deutschrock-Album! Punkt.
Line-up:
Rio Reiser (Gesang, Gitarren, Keyboard, Akkordeon)
R.P.S. Lanrue (Gitarren, Keyboard)
Kai Sichtermann (Bass, Banjo, Trompete)
Funky Götzner (Schlagzeug)

Mit:
Joerg Schlotterer (Floete, Posaune)
Klaus v. Felsen (Saxofon)
Tracklist
CD 1:
01:Jenseits von Eden
02:Bleib wo du bist
03:Sumpf Schlock
04:Der Turm stürzt ein
05:Wie in den Tagen Midians
06:Vorübergehend geschlossen
07:Ebbe und Flut
08:Filmkuss
09:Der Fremde aus Indien
10:Kleine Freuden
11:Heimweh
CD 2:
01:Alles ist richtig
02:'s is' eben so
03:S.N.A.F.T.
04:Kribbel Krabbel
05:Niemand liebt mich
06:Da!
07:Morgenlicht
08:Ich hab' nix
09:Gold
10:Wiedersehen
11:(Auf ein) Happy End
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