Bis zum letzten Moment habe ich gezögert und mit mir selbst gerungen. Soll ich, oder soll ich nicht? In Anbetracht der Aussicht auf strömenden Regen führt mich mein Weg doch in die Berliner Waldbühne, um dem Konzert von Neil Young And Crazy Horse beizuwohnen. Zum Glück habe ich auch noch eines der letzten Tickets an der Abendkasse für schlappe achtzig Euro ergattert und ich gebe zu, dass mir in diesem Moment ein riesiger Stein vom Herzen gefallen ist, denn innerlich habe ich bereits gefühlt, dass diese Investition sehr gut angelegt sein wird.
Ich bin inzwischen viele Jahre nicht mehr in der Waldbühne gewesen, da es sich irgendwie nicht ergeben hat, denn auch dort ist die Anzahl der Veranstaltungen aufgrund der Lärmschutzbestimmungen stark zurückgegangen. Hinter dem Eingang folgt ein kurzer Weg durch den Wald, bis man plötzlich wie vor dem Grand Cajon steht. Beim Blick von oben in die Murellenschlucht, in der sich die riesige Anlage befindet, die ein Fassungsvermögen von zweiundzwanzigtausend Besuchern hat, lässt mir jedes Mal vor Ehrfurcht einen Schauer über den Rücken laufen und sorgt bereits vor dem Konzert für die erste Gänsehaut. Es ist für mich einfach die schönste Konzertarena in Deutschland, an die auch die Loreley nicht herankommt. Wenn man sich dazu noch vorstellt, dass sich dieses Bauwerk mitten in einer Großstadt befindet, kommen besonders die Besucher von weiter weg aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Gebaut wurde die Waldbühne im Zuge des Größenwahns von Adolf Hitler zu den Olympischen Spielen 1936 und begrenzt das Olympische Gelände im Westen hinter dem Stadion und dem Maifeld. Sie ist eines der letzten Relikte der Nazizeit und bis auf die Zeltbühne und Technik im Original erhalten. Nachdem die Arena während eines Konzertes der Rolling Stones von den Fans zerlegt wurde, lag sie sehr viele Jahre im Dornröschenschlaf. Ende der Achtziger wurde sie restauriert, seitdem regelmäßig genutzt und erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit. Die Atmosphäre sowie die Akustik darin sind für eine Open Air-Location absolut einmalig und für einen Künstler wie Neil Young die perfekte Spielstätte.
Wen wundert es also, dass das Konzert ausverkauft ist, zumal Young im vergangenen Jahr zum Doppelschlag ausholte und innerhalb von sechs Monaten zwei CDs veröffentlicht hat. Natürlich sind die Fans auf die neuen Songs gespannt, allerdings ist Young anscheinend der Meinung, lieber Bewährtes zu präsentieren und spielt von der CD Psychedelic Pill nur wenig. Sein vorangegangenes Werk Americana wird gänzlich ignoriert, was ich persönlich als schade empfinde.
Eröffnet wird der Abend bei leichten Regentropfen von Los Lobos, der Sechs-Mann-Combo aus Kalifornien. Ihre Musik geht in den Latin-Bereich und sorgt dafür, dass bereits nach drei Songs die ersten Besucher munter werden und zur mitreißenden Musik tanzen. Gesanglich wird zwischen Englisch und Spanisch gependelt, wobei mir die Stimme von César Rosos, als zweiten Sänger neben David Hidalgo, deutlich besser gefällt und passender zur Musik ist. Herausragender Mann ist Drummer Congar Estrada, der jeden Song völlig anders spielt, um somit seine Mitstreiter zu fordern. Die inzwischen vielen Besucher in der gut gefüllten Arena huldigen diese Leistung mit gehörigem Applaus. Leider sind anscheinend den meisten Anwesenden, ebenso wie mir, die Songs von Los Lobos unbekannt. Hätten die Besucher im Vorfeld erfahren, wer im Vorprogramm spielt, könnten sich viele besser auf den Act einstellen. Dennoch schafft es die Band, die Stimmung ordentlich anzuheizen um dann als letzten Titel den wohl bekanntesten von ihnen, "La Bamba", zu performen, der sogar mit Standing Ovations belohnt wird. Spätestens jetzt ist jedem Besucher klar, um welche Band es sich handelt, denn "La Bamba" wurde von ihnen als Filmmusik über die Geschichte von Ritchie Valens neu aufgenommen, von dem die Ur-Version stammt. Im Ganzen ein gelungener Auftritt, der mir allerdings etwas zu kurz erscheint.
Dafür dehnt sich die Umbaupause ins Uferlose aus, obwohl nicht viel Equipment auf der spärlich dekorierten Bühne vorhanden ist. Neil Young lässt sich lange bitten, bis er endlich mit seinen Crazy Horse erscheint. Es ist wenige Minuten vor zwanzig Uhr, als er mit tosendem Applaus in der beeindruckenden Arena begrüßt wird. Dem Wetter angepasst trägt er eine dicke schwarze Jacke und einen tief ins Gesicht gezogenen schwarzen Hut. Seine Mitspieler hingegen wähnen sich wohl in der Sommerfrische - sie sind kurzärmelig gekleidet. Bei dem Anblick fröstelt es mich und ich bin froh, bei zehn Grad Außentemperatur meine Wintersachen wieder aus dem Schrank geholt zu haben. Young ist ja bekanntlich ein Stimmungsbarometer, was seine Auftritte angeht. Heute zeigt sein Barometer gute Laune an, denn schon nach den ersten Tönen wird jedem klar, dass er rocken will und demnach die Post so richtig abgehen wird. Die Elektrische wird sofort in seiner beliebten Art und Weise malträtiert und es erklingen die Töne, die ihn so einzigartig und unnachahmlich machen. Als er dazu noch seine Stimme erhebt, ist der Abend bereits perfekt, bevor er so richtig angefangen hat. Von nun an zählt nur, was er spielt und vor allem wie lange er spielt. Leider ist die Zeit auf zweiundzwanzig Uhr laut Gesetz begrenzt, was bedeuten würde, dass vielleicht schon nach vier Songs Schluss sein könnte. Young hält sich vermutlich deshalb mit seinen langen Werken zurück. Der Mann ist heute ungewöhnlich agil. Er steht keine Sekunde still, bewegt sich immer gebückt im Takt seiner Riffs und spielt die meiste Zeit vom Publikum abgewendet. Auch beim Singen steht er seitlich zum Mikrofon und kommuniziert dabei viel mit Gitarrist Frank 'Poncho' Sampedro. Was den Platzbedarf der Band auf der riesigen Bühne angeht, könnte das Konzert auch locker in meinem Wohnzimmer stattfinden. Oft stehen die Drei vor dem Schlagzeug im Kreis, als wenn sie sich darüber abstimmen würden, was gespielt werden soll. Manchmal erweckt es den Eindruck, als ob drei Indianerhäuptlinge um ein Lagerfeuer stehen und beraten, wie sie ihren geraubten Kontinent zurückerobern könnten.
Erstes Highlight und neuester Ohrwurm aus dem Hause Young und Crazy Horse ist "Walk Like A Giant" vom "Psychedelic Pill"-Doppelalbum. Hat man einmal dieses Pfeifen und das dazu gehörende lockere Intro im Gehörgang, kann man es einfach nicht mehr vergessen. Das Mammutwerk gräbt sich tief in einen ein und lässt nicht mehr los. Es ist der Titel, der auch mir am Besten gefällt und von der Band in voller Länge gespielt wird. Selbst der Schluss endet in diesen Gigantenschritten, die sich über Minuten hinziehen. Diese spektakulären Abschlüsse wird die Band auch in noch weiteren Songs zelebrieren, bei denen Young nur widerwillig zum Ende kommt.
Nach dem längsten folgt der kürzeste Song auf dem Fuß: "Hole In The Sky" ist bereits nach zwei Minuten abgehakt und Neil Young wechselt zur akustischen Gitarre sowie zur Mundharmonika. "Heart Of Gold" spielt er völlig alleine vor dem andächtigen Publikum. Alle sind sehr ergreifend und auch mir treibt es das Feuchte in die Augen. Bei vielen im weiten Rund werden vermutlich in diesem Moment längst vergessene Erinnerungen geweckt. So ausdrucksstark wie heute habe ich dieses Lied noch nie gehört. Young ist in Höchstform. Damit bringt auch er sich emotional in Stimmung und legt zur Huldigung an eines seiner Vorbilder, Bob Dylan, dessen "Blowin' In The Wind" nach. Um mich herum werden leider Stimmen laut, die das anscheinend nicht verstehen und sich darüber mokieren, dass er damit fremdgeht. Ich kann dem nicht folgen, denn an diesem Abend hätte es nur einer besser machen können und der heißt Robert Zimmermann.
Nichtsdestotrotz ist Young nach diesem gefühlsbetonten Intermezzo in Rock Laune. Sein nächster Volltreffer heißt "Cinnamon Girl" und das Publikum springt von den Sitzen hoch. Auf den folgenden Song mit dem bösen 'F-Wort' muss ich wohl nicht näher eingehen. Das macht Neil Young an diesem Abend selbst ausgiebig genug, indem er das Wort so oft wiederholt, bis es auch der Letzte in der obersten Reihe verstanden hat.
Inzwischen sind geschlagene neunzig Minuten vergangen und Young fällt ein, dass er ja mal das Publikum begrüßen könnte und lässt eine Anmerkung darüber ab, dass es anscheinend in Berlin nie dunkel wird. Vermutlich ist er nicht sehr erfreut darüber, dass die Lightshow kaum eine Wirkung zeigt, da es um diese Zeit noch fast taghell ist. Damit hat sich auch jede weitere Ansage erledigt und der Meister der schrägen Töne widmet sich dem letzten Song des Abends. "Hey Hey, My My (Into The Black)" wird von ihm und der Band einfach nur grandios gespielt. Hierzu erübrigt sich jeglicher Kommentar. Auch hier erneut ein nie aufhören wollendes Ende. Immer wieder schlägt Young die Riffs an und seine Begleiter halten dagegen. Dennoch muss irgendwann der letzte Ton verklingen. Wie die Vier aus dem Nichts gekommen sind, verlassen sie die Bühne. Das Publikum steht inzwischen auf den Bänken und jubelt ihnen minutenlang hinterher. Sprechchöre rufen nach Zugaben und nach fünf Minuten geht die Show, leider mit nur einem Song, in das große Finale. Unter dem Zeltdach wird an Stahlseilen eine Orgel herabgelassen, die in Spielhöhe über dem Boden schwebt. "Like A Hurrican" wird angestimmt und nun mischen sich Musik mit Jubel zu einer Masse. Einer meiner Lieblingssongs zum Schluss, was kann es Schöneres geben. Gut, ich habe mich auf "Rockin' In A Free World" gefreut. Aber ich brauche ja noch etwas, worauf ich mich beim nächsten Mal freuen kann, wenn Neil Young wieder in der Hauptstadt zu Besuch sein sollte.
Der Abend war herausragend. Die achtzig Euro zwar unverschämt hoch, aber es ist es mir Wert, um einen der letzten großen Helden des Folk Rock zu erleben. In drei Wochen stehen seine ehemaligen Partner Crosby, Stills & Nash ebenfalls in Berlin auf der Bühne. Auch diesem Event werde ich beiwohnen und es mir nicht nehmen lassen. Wer weiß, wie lange man diesen Menschen noch persönlich zuhören kann.
Line-up Los Lobos:
David Hidalgo (vocals, guitar, akkordeon)
Louie Perez (guitar, drums)
Conrad Lozano (bass)
César Rosos (vocals, guitar, mandoline)
Steve Berlin (keyboards, saxophone)
Congar Estrada (drums)
Line-up Neil Young And Crazy Horse:
Neil Young(vocals, guitar, keyboards)
Frank 'Poncho' Sampedro (guitar, keyboards)
Billy Talbot (bass)
Ralph Molina (drums)
Setlist Neil Young And Crazy Horse:
01:Love And Only Love
02:Powderfinger
03:Psychedelic Pill
04:Walk Like A Giant
05:Hole In The Sky
06:Heart Of Gold
07:Blowin' In The Wind
08:Singer Without A Song
09:Ramada Inn
10:Cinnamon Girl
11:F*!#in' Up
12:Mr. Soul
13:Hey Hey, My My (Into The Black)
Encore:
14:Like A Hurricane
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