Von wegen "Drive South"...
Southern-Rocker testen osteuropäische Straßen
Drive South »Soll nur noch mal jemand in meiner Gegenwart über 'Europa' meckern... Drei Länder, drei Währungen, drei Sprachen und eine richtig heftige Grenze - da lernt man die Vorzüge der EU zu schätzen!

Ein Reisebericht... Dritter und letzter Teil




Zwischenruf vom 03.10.2012


Steve Braun
Keine zwei Kilometer hinter Nida beginnt bereits der russische Teil der Kurischen Nehrung. Wir sind gewarnt - das kann heiter werden. Aber keiner hat vorhersehen können, dass uns ausgerechnet Iwan, der Schreckliche an diesem Morgen beim Zoll gegenübersitzt... und Iwan scheint verdammt schlecht geschlafen zu haben!! Als Kriegsdienstverweigerer habe ich gewisse Probleme mit dem militärischen Bellen, das uns entgegenschallt. Aha, er will eine Zollerklärung für die Einfuhr unseres Autos und irgendwann im weiteren Verlauf der kyrillischen Wortkaskaden wird auch klar, dass er diese in zweifacher Ausfertigung wünscht. Herrschaftszeiten, letztmals wurden wir zu DDR-Zeiten mit diesem bürokratischen Akt konfrontiert - irgendwann in den Achtzigern! Ausgefüllt - leider einmal in die falsche Zeile gerutscht. Dramaturgisch perfekt wandert das Ding zerrissen in Iwans Papierkorb. Zweiter Versuch - einmal verschrieben und korrigiert. So 'was geht garnedd - der Mülleimer füllt sich. Ein dritter Anlauf gelingt zwar perfekt, aber nun ist erst einmal Schichtwechsel für die 'Wachmannschaft' - kopfschüttelnd verfolgen wir die zeitraubende Zeremonie. Iwan wird durch ein neues Exemplar ersetzt, das zwar nicht unbedingt freundlicher ist, aber wenigstens ein paar Brocken englisch spricht. Die theatralisch abgestempelten Papiere bloß nicht verlieren... sonst wartet beim Versuch der Ausreise möglicherweise ein netter Ausflug in ein sibirisches Gulag auf uns!!
Pillkoppen Die Grenzstation kommt uns im Nachhinein wie eine gigantische Zeitmaschine vor, die uns vierzig Jahre in die Vergangenheit transportiert hat. Krasser könnte der Kontrast zur litauischen Seite der Nehrung nicht ausfallen. Die in alten Reiseführern als wunderschön beschriebenen Örtchen Pillkoppen und Rossitten (ich bleibe im Kaliningrad Oblast mal der Einfachheit halber bei den deutschen Ortsnamen) bieten zwar noch reichlich alte Bausubstanz, aber in einem erbärmlichen Zustand. Am Ortsrand bauen sich dagegen Moskauer Superreiche ein paar Traumvillen. Die zwei Welten in Putins zerrissenem Oligarchen-Reich prallen hier schonungslos aufeinander. Überhaupt: Wer die bittere Armut der Landbevölkerung im Kaliningrad Oblast (im folgenden Königsberger Gebiet genannt) wahrnimmt, kann realisieren, dass die Luxuskarossen der obersten Oberklasse, die uns ständig entgegenprotzen, wohl kaum mit 'ehrlicher' Arbeit verdient sein können.
Rositten Der russische Teil der Nehrung ist wilder und ursprünglicher als die litauische Seite, was sicher daran liegt, dass er touristisch noch kaum erschlossen ist. Dafür ist alles verboten, was Spaß machen könnte. Aussteigen ist streng verboten, vor allem im Grenzbereich. Zugang zum Haff und zur Ostsee hat man nur auf den offiziellen Wegen - ohne RockTimes-Hunde selbstredend, denn deren Ausführen ist ebenfalls untersagt. Die Strände müssen am Abend geräumt werden. Die gesamte Bernsteinküste um Palmnicken ist Sperrgebiet und darf ebenso wie Pillau nur mit Sondergenehmigung betreten werden. Das Gebiet um den größten eisfreien russischen Militärhafen ist in einem kilometerweiten Radius hermetisch abgeriegelt. Leise beginnen wir Westernhagens "Freiheit" zu summen... die bemerkt man wirklich nur, wenn sie fehlt!!
Tilsit Die historischen Seebäder Crantz und Rauschen lassen noch den alten Glanz erahnen. Hier wurde manches erhalten, um der Bevölkerung im Arbeiter- und Bauernstaat ein wenig Erholung von der trostlosen Wirklichkeit zu ermöglichen. Und diese hat sich heute - etwa zwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion - nur unwesentlich verändert. Not und Elend wohin das Auge blickt...
Das alte Tilsit - bis vor wenigen Jahren ebenfalls noch Sperrgebiet - sieht auch nur aus der Entfernung, von den Memelhügeln betrachtet, malerisch aus. Da im Zweiten Weltkrieg 'nur' etwa fünfzig Prozent der Bausubstanz zerstört wurde, erinnert heute noch vieles an die 'gewachsene' Stadt von einst. Sogar einige Gründerzeitvillen sind noch im Innenstadtbereich zu finden, aber das Stadtbild insgesamt ist in einem beklagenswerten Zustand. Wir wollen aber nicht vergessen, dass alleine Onkel Dolfis Wahnsinn für den heutigen Zustand des Königsberger Gebietes ursächlich ist!! Was an Kirchen im Krieg nicht komplett verwüstet wurde, kam in den Siebzigern unter die Abrissbirne, so wie die prächtige Deutschordenskirche, die den Feuersturm fast unversehrt überstanden hatte. Blickfang ist und bleibt natürlich die Königin-Luise-Brücke, die heute den Grenzübergang nach Litauen markiert.
Balga Der unterschiedliche Umgang (im Vergleich zum polnischen Teil Ostpreußens) mit dem geschichtlichen Erbe wird überall im Königsberger Gebiet sichtbar. Hier wurden die Menschen vertrieben, alles 'Deutsche' ausradiert und eine zusammengewürfelte, komplett neue Bevölkerung angesiedelt, die mit dem geschichtlichen Erbe nix am Hut hatte. Es sind aber gerade die Nachfahren deutschstämmiger Neuankömmlinge aus dem Wolgagebiet oder Kasachstan, die seit zehn, fünfzehn Jahren zu retten versuchen, was noch zu retten ist. Anfangs argwöhnisch von den Behörden beobachtet, hat mittlerweile ein Umdenken eingesetzt. Der Königsberger Dom sollte wie das Schloss noch in den Siebzigern auf persönlichen Befehl Leonid Breschnews gesprengt werden. Einzig das Grab Immanuel Kants, den die Sowjets als Vorkämpfer des Sozialismus [oha, gewagte These!] betrachteten, bewahrte das gotische Bauwerk vor dem ruhmlosen Ende. Nun wird nicht nur dort renoviert, was das Zeug hält, sondern Kulturvereine bemühen sich im ganzen Land, geschichtsträchtige Gebäude zu erhalten. Es fehlt einzig das Geld...
Mit diesen ernüchternden Eindrücken steht uns nun die russisch/polnische Grenze bevor. Nach unseren Erfahrungen in Nida ist uns ein wenig mulmig zumute. Wider Erwarten sind wir am russischen Zoll in einer viertel Stunde durch, doch die Freude wird kurz darauf beim Anblick der Schlange vor dem polnischen Schlagbaum jäh gedämpft. Das wird mindestens zwei Stunden dauern, denken wir - es wurden fast fünf, weil die Polen jedes, wirklich jedes Fahrzeug komplett filzen.
Mehr als genug Zeit, um den Player mal wieder zu füttern, obwohl Musikhören hier im russischen Niemandsland ebenso verboten ist, wie Fotografieren, Rauchen und wahrscheinlich auch das Atmen. Scheiß' drauf... »Blind man in the dark...« schallt in voller Lautstärke aus den Boxen - ich brauche jetzt mein Maultier, um Druck aus dem Kessel abzulassen. Es ist einfach sooo geil, dass man nahezu jedes Konzert von denen nachträglich via Muletracks downloaden kann. So manches Schätzchen hat auf diesem Weg zu Papa gefunden, wie alle New Years Eves oder die geniale Boston-Show von 2009, bei der man ausschließlich Pink Floyd-Klassiker spielte. Sogar meine obligatorische Urlaubs-Scheibe kommt zum Einsatz, auch wenn meine Frau bei dieser Mucke die Motten kriegt...
Die sorgt dann für einen Eklat, weil sie es wagt, sich - der Notdurft wegen - in die Büsche schlagen zu wollen. Weit kommt sie nicht - zwei russische Grenzbeamten 'verhaften' sie quasi, geleiten sie dann 'freundlicherweise', aber äußerst aufmerksam, zu einer Diensttoilette. Schön isses, im Land eines »lupenreinen Demokraten«!!
Frombork Wenige Kilometer hinter der Grenze erreichen wir unsere nächste Etappe: Das wunderhübsch am Frischen Haff gelegene Hafenstädtchen Frombork (Frauenburg). Ein erfreulich gastfreundlich geführtes Hotel bietet eine perfekte Bleibe für die nächsten Tage, zumal es einen exklusiven Panoramablick auf die bischöfliche Burg gratis gibt. So winzig das Städtchen heute, so mächtig war es im Mittelalter. Frauenburg war der Sitz der ermländischen Fürstbischöfe und bis 1945 Freie Stadt - die liebevoll restaurierte Pracht auf dem Domhügel zeugt von der einstigen Bedeutung. Besonders stolz ist man hier auf das astronomische Wirken von Nikolaus Kopernikus, der die mittelalterlichen Vorstellungen von unserem Sonnensystem revolutionieren sollte und hier lange Zeit Domherr war. Seine Beobachtungen konnte er auf dem höchsten Turm der Frauenburg machen - seine astrophysikalischen Versuche musste er allerdings in seinem Haus im Stadtbereich machen. Solche 'Ketzereien' hätten die Fürstbischöfe niemals auf geweihtem Boden zugelassen. Unbedingt sollte man das Planetarium und das Fourcault'sche Pendel im Glockenturm besuchen.
Den ganzen russischen Frust vergisst man am besten bei einer 'polnischen Platte': verschiedenste Würste, Bigos (Sauerkrautgulasch mit Speck und Pilzen) und Piroggen - wir machen die einzigartige Begegnung mit den besten Grütz- und Blutwürsten unseres Lebens!! Erneut gehen uns angesichts der kulinarischen Köstlichkeiten die Augen über: Ob ein Kuttelsüppchen, ein gerolltes Käseschnitzel oder eine Rindsroulade, die von der Größe eher an einen Rollbraten erinnert: Alles schmeckt genauso lecker, wie es aussieht... die leckeren Kuchen zum Nachtisch dürfen hier nicht unerwähnt bleiben.
Stutthof Nach der Kurischen wollen wir natürlich auch die Frische Nehrung sehen. Deren (größerer) russischer Teil ist komplettes militärisches Sperrgebiet und soll eine traumhafte Wildnis sein. Vom polnischen Teil sind wir ziemlich enttäuscht, weil hier maßlos touristisch erschlossen wurde und der Naturschutz eindeutig zu kurz kam. Auch wenn man nun mit Hochdruck zurückzurudern versucht: Die Idylle ist wohl endgültig verloren.
Am Wegesrand liegt ein besonders grauenerregender Ort: das KZ Stutthof. Das bereits einen Tag nach Beginn des Angriffs auf Polen im Bezirk Danzig errichtete Lager, diente anfangs vornehmlich der Vernichtung der polnischen Intelligenz im Bereich Pommern durch Hunger und Zwangsarbeit. Im Sommer 1942 erhielt Stutthof ein Krematorium - ein Jahr später wurde direkt daneben eine Gaskammer errichtet. Nun galt es, die 'Endlösung der Judenfrage' in typisch preußischer Gründlichkeit, fabrikmäßiger Mord, durchzuführen. Zu diesem Zweck wurde das Lager zeitgleich noch einmal gewaltig vergrößert.
Bis zur Befreiung im Februar 1945 waren insgesamt etwa 120.000 Menschen in diesem Konzentrationslager inhaftiert, von denen zwei Drittel unter erbärmlichsten Umständen umkamen. Noch in den Wirren der letzten Kämpfe um Ostpreußen wurden allerdings noch einmal fast 12.000 Häftlinge auf einen Todesmarsch geschickt - die wenigsten überlebten! Weitere Vernichtungsmärsche konnte das Eingreifen der Roten Armee verhindern.
In zwei Stutthof-Prozessen wurden die Hauptverantwortlichen zum Tod durch Erhängen verurteilt. Einzig der letzte Lagerkommandant Paul Werner Hoppe, der viele Jahre untertauchen konnte, wurde1957 in Bochum zu lediglich neun Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord verurteilt, wovon er allerdings nur drei Jahre verbüßen musste. Er lebte bis zu seinem Tod 1974 unbehelligt von deutschen Strafverfolgungsbehörden in Bochum.
Auch wenn wir keine persönliche Schuld mehr tragen, werden wir mal wieder ganz klein angesichts der abscheulichen Verbrechen, die im Namen Deutschlands begangen wurden...
Stutthof Angesichts dieser Eindrücke bleibt es bei der Weiterfahrt erstmal still im Auto. Die CD von Zupfgeigenhansel, "Jiddische Lieder" (1979), ein klagender Blueser oder - um, die Not überdeutlich zu machen - irgendein 'Americana-Jammerlappen' wären jetzt, nachdem wir unsere Fassung wieder gefunden haben, genau richtig, aber nichts dergleichen ist im musikalischen 'Reiseproviant' zu finden.
Wir fahren in Richtung Malbork (Marienburg), das bereits außerhalb der Grenzen des Ermlandes liegt. Die zweitgrößte Burganlage Europas dürfte wohl so manchem Leser ein Begriff sein, denn sie gilt als das größte und bedeutendste Bauwerk der Backsteingotik schlechthin. Die Marienburg wurde Anfang des 14. Jahrhunderts von den Rittern des Deutschen Ordens an strategisch wichtiger Stelle, am Flüsschen Nogat gelegen, auf den Trümmern der Burg Trappeinen errichtet. Über 150 Jahre lang war sie der Hauptsitz der Hochmeister des Ordens. Sie teilt sich in Vor-, Mittel- und Hochburg auf, wobei große Teile der Vorburg derzeit restauriert werden. Wehrmacht und Waffen-SS hatten sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in einer sinnlosen Abwehrschlacht in der Burg festgekrallt, ungeachtet des Umstandes, dass dadurch die gesamte Ostflanke zerstört wurde. Die Aufbauleistungen der Polen sind grandios - dieses Schmuckstück sollte das Highlight eines jeden Besuches unseres Nachbarlandes sein.
Marienburg Noch einmal tun wir uns die polnischen Landstraßen nicht an! Pünktlich zur EM in diesem Jahr wurden die ersten beiden Autobahnen fertiggestellt. Auf beinahe jungfräulichen Straßen gleiten wir dahin und obwohl wir der Heimat Kilometer für Kilometer näher kommen, bleibt der 'Urlaubsmodus' aktiv. Einziges Zugeständnis an die Lebenswirklichkeit sind die beiden Scheiben, die mir die RockTimes-Scheffin zum Besprechen geschickt hat. Karthagos Erstling von 1971 wurde gerade von MiG mit einem ultra-coolen Faltcover neu aufgelegt und ist wie erwartet gut. Zwar ist die Band hörbar noch nicht auf ihrem Zenit, den sie mit (ihrem?) Rock'n'Roll Testament 1974 erreichen sollte, gleicht dies aber mit noch ungeschliffener Spielfreude voll aus. Am schönsten ist das funkige "I Don't Live Tomorrow" und das bluesig-wilde "I Know What You Can Do". Die bereits auf der Hinfahrt bewährte "Radiogram" von Gwyn Ashton wird - ganz wie erwartet - dem kauzigen Naturell des Walisers gerecht. Vielleicht nicht so ausgeflippt wie seine letzte Scheibe, das blues-punkige "Two Man Blues Army", aber qualitativ kommt "Radiogram" durchaus an meinen Liebling von ihm, Prohibition, heran. Meine Anspieltipps? "Little Girl" und "I Wanna Make Love"!
Naumburg Letzte Etappe ist Naumburg, die Metropole des Weinbaugebietes Saale-Unstrut. Zwar wurde die Anbaufläche nach der Wende nahezu verdoppelt (mittlerweile hat man bereits den Mittelrhein überholt), die alten Terrassen blieben aber zum Glück von Flurbereinigungen verschont. Schön, dass man die Fehler in den westdeutschen Anbaugebieten der sechziger und siebziger Jahre hier nicht wiederholt hat. Die letzten Winkel der Staufläche unseres Autos werden mit Weinkartons vollgestopft, denn die Weißweine aus den Burgundersorten sind hier bemerkenswert. Durch die relativ kühlen Temperaturen bewahren sich Weiß- und Grauburgunder eine Frische, wie man sie von den Alkoholbomben aus der Pfalz und vor allem Baden nicht kennt. Selbst die anderorts manchmal etwas einfältigen Sorten Silvaner und Gutedel können hier rassige, feinfruchtige Gewächse hervorbringen. Die Rotweinsorten haben zwar mengen- aber keinesfalls qualitätsmäßig aufgeholt. Davon lässt man besser die Finger...
Das pittoreske Städtchen mit seinem berühmten Dom hat sich in den letzten Jahren beachtlich herausgeputzt und bietet die perfekte Kulisse zum Durchschnaufen - bevor uns die Realitäten wieder einholen. Das eine oder andere leckere Köstrizer Schwarzbier lassen wir uns hier zu Ehren eines rundherum gelungenen Urlaubes schmecken...
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