Jethro Tull's Ian Anderson - Thick As A Brick Tour, 20.05.2012, Tempodrom, Berlin
Tempodrom
Jethro Tull's Ian Anderson - Thick As A Brick Tour
Tempodrom, Berlin
20. Mai 2012
Konzertbericht
Stil: Prog Rock


Artikel vom 26.05.2012


Holger Ott
Standing Ovations für den Altmeister des Progressive Rock.
Ian Anderson Nachdem die letzte Tour von Jethro Tull vor zwei Jahren in meinen Augen eine totale Pleite war, da langweilig runtergehauen und grottenschlecht gespielt, hat sich der Meister Ian Anderson gedacht, das nächste Ding ziehe ich alleine durch. Somit firmiert die Fortsetzung des Konzeptalbums "Thick As A Brick" auch unter sein Solo-Projekt. Zwar sind aus dem Tull-Line-up John O'Hara und David Goodier mit von der Partie, aber der Rest der Mitspieler kommt von der Ersatzbank. Natürlich kann der Rosenheimer Florian Opahle keinen Martin Barre ersetzen, dennoch klingt seine Gibson ebenso schön.
Ian Anderson TABB2, wie die neue CD kurz genannt wird, war bereits in allen Medien, und wurde auch von mir hier in den höchsten Tönen gelobt. Nun steht die Tour dazu an, bei der ich selbstverständlich gespannt bin, wie Anderson sein Konzept auf der Bühne umsetzt. Viele der Zuschauer werden noch von den Konzerten der 70er und 80er Jahre verwöhnt sein, die zum Teil mehr an eine Theateraufführung erinnerten, als an ein Prog Rock-Konzert. In den letzten Jahren habe ich das vermisst. Die Band hatte sich auf das Wesentliche reduziert und hauptsächlich davon gelebt, ihre Gassenhauer "Locomotive Breath" und Aqualung zu spielen. "Thick As A Brick" wurde höchstens für ein paar Minuten angerissen, damit das Thema nicht aus den Köpfen der Fans verschwindet. Damit ging es in großen Schritten bergab. Anscheinend ist Anderson das endlich auch klar geworden, und er hat sich auf "TAAB2" an seine Qualitäten erinnert, nämlich dem Erzählen von Geschichten, die mit der passenden Musik vertont werden.
Ian Anderson Zum ersten Mal in der Schaffenszeit von Ian Anderson und Jethro Tull wird das Album "Thick As A Brick" in voller Länge, gemeinsam mit der Fortsetzung aufgeführt. Ja, aufgeführt ist das passende Wort, denn das, was in den kommenden zwei Stunden auf der Bühne geschieht, lässt das Herz eines jeden Fans jubeln.
Die Bühne ist nicht verkleidet, und ich kann mir beim Betreten des Tempodroms in Ruhe einen Eindruck verschaffen. Rechts ein bescheidenes Schlagzeug, links die Tasteninstrumente und in der Mitte ein Mikrofonständer. Ein paar Monitore zieren den Bühnenboden, eine kleine Leinwand im Hintergrund, das war es auch schon. Es sieht nicht aufregend aus, und alles deutet für mich darauf hin, dass dieses Konzert anscheinend an die letzte Tour anknüpfen wird, also von gähnender Langeweile geprägt ist. Dass ich, sowie mit mir der ausverkaufte Saal, völlig geflasht nach Hause gehen werde, ist mir in diesem Moment noch nicht bewusst.
Ian Anderson Klare Anweisungen erlauben mir, maximal fünf Minuten aus der vordersten Reihe zu fotografieren. Der Rest ist nur von ganz hinten erlaubt, und da sich mein Sitzplatz ebenfalls dort hinten befindet, kann ich die ganze Show gemütlich aus dem Sitzen ablichten. Was mir dabei vor die Linse kommt, ist fast unbeschreiblich.
Ich werde in die Zeit der Wende vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert versetzt. Auf der Bühne wimmeln Bahnhofsarbeiter oder Lagerarbeiter herum, gekleidet in langen braunen Kitteln und mit Schiebermützen. Geschäftiges Treiben macht sich breit, es wird hier und da etwas gerückt. Wasserflaschen werden auf der Bühne verteilt und einer der Arbeiter zieht einen schweren Koffer quer durchs Publikum hinter sich her. Leise Musik läuft im Hintergrund, gepaart mit Alltagsgeräuschen. Das Licht erlischt, und direkt vor mir steht Ian Anderson auf der Bühne. Noch müssen sich die Fotografen zurückhalten, erst als er zur Querflöte greift, ist die Aufführung offiziell eröffnet. Was folgt ist ein Anderson, wie ich ihn das letzte Mal vor fünfundzwanzig Jahren auf der Bühne gesehen habe. Seine Mimik, seine Gestik, seine Stimme, alles wie zur besten Zeit seines Lebens. Er läuft ständig hin und her, wechselt immer wieder von der Mandoline zur Flöte, erklärt und erzählt viel. Der Mann ist wie ausgewechselt, und es steht ihm auf der Stirn geschrieben, wie sehr er sich freut, sein Kunstwerk zu präsentieren. Zum Leidwesen aller, gibt er nur einmal seine markante Pose, auf einem Bein stehend, mit der Querflöte am Mund. In Zukunft wird es aus gesundheitlichen Gründen dieses Markenzeichen vermutlich überhaupt nicht mehr geben. Anderson hat es etwas in den Gelenken.
Ian Anderson Immer dicht an seiner Seite verbleibt einer der Arbeiter. Ausgestattet mit einem Headset, entwickelt sich dieser unscheinbare Mensch zu der wichtigen Person neben Anderson. Er verkörpert den Protagonisten der "TAAB"-Saga, Gerald Bostock. In den Passagen, bei denen Anderson die Querflöte bedient, singt dieser zweite Sänger weiter. Dazu agiert er stets wie ein Schauspieler, und setzt seinen Gesang perfekt in Szene. Die Stimme ist phänomenal; dazu schwingt er, inzwischen im Militär-Look gekleidet, einen Stab, der der Flöte gleicht. Man muss dieses Schauspiel einfach mit eignen Augen sehen, um die Details zu erkennen. Das Thema der ersten "Thick As A Brick" wird somit in die Handlung verpackt, die bisher nur für das Ohr bestimmt war. Im Hintergrund auf der kleinen Leinwand werden passend dazu Bilder oder Filme eingespielt, die die Szenerie abrunden, und so manche Erklärung liefern.
Ian Anderson Nachdem die Urfassung von "Thick As A Brick" dem Ende entgegen geht, und Drummer Scott Hammond fünf Minuten zeigen darf, was für Fähigkeiten an der Schießbude in ihm stecken, entlässt der Meister seine Musiker und die Zuschauer mit den magischen Worten in die Pause: »...to be thick as a brick.«
Zwanzig Minuten später geht die Aufführung in die zweite Runde. "TAAB2" ist nun fällig. Der Flötengott fungiert auf der Leinwand als Erzähler und zeigt dem neugierigen und staunenden Publikum in der Verkleidung eines alten englischen Landlords sein umfangreiches Anwesen. Er wandert über Wiesen und Brücken, präsentiert seine Tiere und plaudert auch mal mit ihnen. Etwas schrullig, aber trotzdem einfach nur genial. Fehlt nur noch, dass Miss Marple um die Ecke kommt und ihm ein Heiratsangebot macht. Nach dieser Einführung in den zweiten Teil, legt die Band auch ohne Umschweife los. Jeder der Musiker ist perfekt, angefangen vom ruhigen und zurückhaltenden David Goodier am Bass, über den Tastenvirtuosen John O'Hara, der auch mal eine Ziehharmonika bedient, bis hin zum sehr guten deutschen Gitarristen Florian Opale. Dieser liefert sich mit Anderson das ein und andere Duell. Man merkt kaum, dass Martin Barre auch nur ansatzmäßig fehlt.
Ian Anderson Anderson hingegen ist so gut drauf, dass er mit dem Publikum spielt. Es gibt nochmals eine deutliche Steigerung zum ersten Teil. Immer wieder erzählt er lustige Anekdoten, die den Saal zum Lachen bringen. Als ein älterer Herr, der natürlich zum Ensemble gehört, sich anschickt den Saal zu verlassen, wird er von Anderson aufgegriffen. Auf die Frage, wohin er gehen will, und das mit dem Gang zum Klo beantwortet, wird er erst einmal aufgefordert, eine Rektaluntersuchung zum Befinden seiner Prostata über sich ergehen zu lassen. Bostock, inzwischen als Arzt verkleidet, nimmt den Typen auf der Bühne in die Mangel, und stülpt sich schon mal den Gummihandschuh über. Auf der Leinwand, als Schattenbild, darf dann jeder in Lebensgröße sehen, wie dem armen Kerl etwas von hinten eingeführt wird. Natürlich kriegt sich das Publikum vor Lachen nicht mehr ein und Anderson liefert noch einen deftigen Witz dazu, aber deutet auch sehr ernsthaft an, wie wichtig solch eine Untersuchung sein kann. Nicht ohne Grund engagiert sich Anderson im Kampf gegen Prostatakrebs.
Ian Anderson Wird der erste Teil des Abends fast nahtlos gespielt, so ergeben sich durch die Fülle der neuen Songs einige kleine Pausen im Ablauf. Der Darsteller des Gerald Bostock nutzt diese Pausen zum Umkleiden, während auf der Leinwand immer wieder originelle Einspieler gezeigt werden. Unter anderem ist leider viel zu kurz ein sehr selten gezeigtes Foto zu erkennen, auf dem anscheinend etwa einhundert Studenten abgelichtet, und darin mit drei Kreisen einige der Urväter von Jethro Tull markiert sind. Leider verschwindet das Bild zu schnell, und ich kann nur John Evan und Jeffrey Hammond-Hammond erkennen. Mein Fotoapparat war auch nicht schnell genug, und somit liegt es an den Besuchern der kommenden Shows, sofern Interesse besteht, mal ein Auge drauf zu werfen.
Ian Anderson Diese kommenden Shows sind das Stichwort. Beim diesjährigen Burg Herzberg Festival ist diese Aufführung der Headliner. Wer noch kein Ticket hat, sollte sich unbedingt eines besorgen. Wer diesen Auftritt verpasst, ist selbst schuld. Ich kann nur jedem wärmstens empfehlen, sich das anzusehen und den puren Hörgenuss zu erleben. Die Akustik im Berliner Tempodrom war einfach nur Extraklasse, die optischen Eindrücke dezent, aber auf den Punkt passend. Das Kunstwerk als Ganzes, das Beste was zur Zeit auf der Bühne zu sehen und zu erleben ist. Von mir aus darf Ian Anderson nun in Rente gehen, es kann keine Steigerung mehr geben. Wer will denn jetzt noch das abgedroschene "Locomotive Breath" hören, nachdem er diese berauschende Aufführung gesehen hat?
Ian Anderson Leider läuft der zweite Teil auch nur eine knappe Stunde, und da es auf einer CD auch keine Zugaben gibt, und diese sowieso fehl am Platze wären, wird die Veranstaltung wie im Kino mit einem "The End" auf der Leinwand beendet. Im selben Atemzug ist auch der Runnig Gag zu Ende. Es zieht sich wie ein Faden durch das Geschehen, dass ein Mann im Taucheranzug über Felder und durch Dörfer und Städte wandert, stets auf der Suche nach Wasser, um in seinem Element zu verschwinden. Eine Pfütze gibt ihm nicht die Erlösung, ebenso wenig wie ein kleiner Bach. Endlich, am Ende des Geschehens, steht er am Meer und entschwindet in dessen Weiten.
Das Publikum tobt vor Entzücken, und ich genieße es, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben, nach ca. zwanzig Jethro Tull-Konzerten, beiwohnen kann wie Ian Anderson mit minutenlangem, frenetischen Applaus und Standing Ovations verabschiedet wird. Die Show hat jeden im ausverkauften Saal berührt. Alle Beteiligten waren in Höchstform. Der Bostock-Schauspieler hat ein besonderes Lob verdient.
Und natürlich einen besonderen Dank an Janine Lerch vom Concertbüro Zahlmann, die es mir ermöglicht hat, einen exorbitanten Abend mit einem meiner Lieblingsmusiker zu erleben.
Line-up:
Ian Anderson (vocals, flute, mandoline, guitar)
John O'Hara (Hammond organ, piano, keyboards)
David Goodier (bass, glockenspiel)
Florian Opahle (guitars)
Scott Hammond (drums)
Setlist:
Thick As A Brick Part One
Thick As A Brick Part Two
Thick As A Brick 2
Ian Anderson   Ian Anderson   Ian Anderson
Ian Anderson   Ian Anderson   Ian Anderson
Ian Anderson   Ian Anderson   Ian Anderson   Ian Anderson
Externe Links: