Innerhalb eines Jahres gastiert Jethro Tull-Mastermind Ian Anderson mit seiner Begleitband zum zweiten Mal in Berlin und performt erneut sein vierzig Jahre altes Meisterwerk Thick As A Brick und dessen Fortsetzung. Im vergangenen Jahr war das Medieninteresse riesengroß und selbst die kleinste Gazette hat über dieses Ereignis berichtet. Das Konzert war grandios und alle Beteiligten in Höchstform. Wie weit hat nun diese Euphorie nachgelassen und die Spielfreude darunter gelitten, wenn die 'Show around the World' an jedem zweiten Abend aufgeführt wird? Um diese Erkenntnisse zu gewinnen, bin ich wieder auf dem Weg in das überdimensionale Betonzelt Tempodrom, das heute Abend augenscheinlich wohl nur zu Dreivierteln gefüllt ist. Daran ist mit Sicherheit die deutlich reduzierte Werbung für diese Veranstaltung schuld.
Nach wie vor hat sich an der Bandbesetzung nichts geändert und Andersons Busenkumpel Martin Barre, der vor vierzig Jahren maßgeblich am Entstehen der LP beteiligt war, muss zu Hause bleiben. Oder besser gesagt, er tourt - quasi als zweiter Abgesandter von Jethro Tull - derzeit solo, um die alten Klassiker der Band darzubieten - demnächst übrigens auch in deutschen Landen. Ob ihn das so wirklich befriedigt, wage ich zu bezweifeln. Jedenfalls liegt das Projekt Jethro Tull nach wie vor auf Eis. Dennoch ist Mr. Anderson akribisch dabei, Songs zu schreiben und sich Geschichten auszudenken, denn - hört, hört - es wird von "Thick As A Brick" einen dritten Teil geben. Darin wird dann abgehandelt, wie es dem Hauptprotagonisten Gerald Bostock im hohen Alter ergeht oder ergehen könnte. Dass bis zur Veröffentlichung dieser Scheibe nicht wieder vierzig Jahre ins Land gehen werden, liegt auf der Hand, denn es wäre ein genetisches Wunder, wenn Anderson dann immer noch ins Horn, sprich Flöte, stoßen würde.
Meine Hoffnungen dahingehend, dass die Show den gleichen Ablauf wie im Vorjahr haben wird, bestätigen sich im Verlauf des Abends nicht. Anderson und seine Truppe beschränken sich dieses Mal rein auf die Musik und lassen jegliche Bühnenaktion außen vor. Keine Zeitungsjungen, die - wie früher üblich - die News in den Straßen an den Leser gebracht haben, keine überaus witzige Rektaluntersuchung an einem Konzertbesucher, kein geschäftiges Treiben auf der Bühne in den Songpausen und deutlich weniger Videoeinspielungen im Hintergrund. Die witzige Ader von Ian Anderson kommt leider nur selten zum Zuge und deshalb genießt das Publikum die Show auch sehr verhalten. Lediglich in den wenigen musikalischen Pausen rauscht ein gesitteter Applaus.
"Thick As A Brick" wird - wie gehabt - im ersten Teil des Abends komplett in voller Länge dargeboten. Herausragend - wie ich finde - und man sieht deutlich, dass den Musikern die Spielfreude auch nach einem Jahr nicht verloren gegangen ist. Im Gegenteil, es werden, für den ungeübten Besucher kaum erkennbar, viele Details verfeinert und verbessert. Übung macht halt den Meister und zu einem Meister seines Faches ist der, neben Anderson fungierende zweite Hautdarsteller, Rian O'Donnell, geworden. Die leibhaftige Verkörperung des Gerald Bostock, um den es hier geht, brilliert in allen Phasen der Show. Seine Gesangspassagen sind einfach nur grandios und im Wechsel mit Anderson perfekt abgestimmt. Dazu sind die Mimik und Gestik hollywoodreif. Leider ist dieser erste Teil viel zu schnell vorüber und mir wird wieder einmal bewusst, dass eine LP eben nur etwa vierzig Minuten läuft. Weil dieses der Band anscheinend auch bekannt ist und sie dem Publikum trotz Ankündigung der Pause etwas Gutes tun möchte, bleibt das Licht im Saal aus und es wird "Aqualung" leise und gemächlich angestimmt. Ausgerechnet einer meiner Lieblingssongs wird mal wieder verunstaltet, so geht es mir in den ersten Minuten durch den Kopf. Bis Gitarrist Florian Opahle in die Saiten greift und der Sache den nötigen Druck verleiht. Plötzlich wird aus der lahmen Akustik-Version eine echte Wahnsinnsinterpretation, bei der Opahle, vermutlich aus Respekt vor Martin Barre, auf dessen prägnantes Gitarrensolo verzichtet. Auch hier teilen sich Anderson und sein Protagonist Bostock den Gesang. Das Publikum ist plötzlich munter geworden und entlässt die Band mit tosendem Applaus in die fünfzehnminütige Pause.
Nach der Pause bekommt der Zuschauer - wie im Jahr davor - Einblicke in das Privatleben des 'Großgrundbesitzers' Ian Anderson. Im Einspieler läuft ein witziger Film, der auf seinem Grundstück gedreht wurde, von ihm mit zweideutigen Kommentaren versehen ist und dessen Handlung in die Aufführung zu TAAB2 überleitet. Auch die Fortsetzung dieses Epos wird fast ohne Ansagen gespielt. Zwei kleine Pausen in der Songabfolge ermöglichen dem Publikum, sich beim Applaus ein wenig zu bewegen. Ansonsten verharrt der Saal in lautloser kollektiver Andacht. Im Gegensatz zum Vorjahr ist die Stimmung unter den Besuchern auf dem Nullpunkt. Auch bei mir macht sich kurz vor Ende der Show leichte Langeweile breit und ich blicke des Öfteren auf meine Uhr. Inzwischen ist es kurz vor 22.30 Uhr und die Veranstaltung nähert sich dem Ende. Auch im zweiten Teil sind alle Musiker und der Bostock-Darsteller herausragend. Anderson sprüht vor Energie und in diesem Jahr vollführt er auch wieder mehrfach seine typische Bewegung, die zu seinem Markenzeichen wurde: dem Stehen auf einem Bein, während er die Querflöte bedient. Letztes Jahr war ihm diese Pose leider aus gesundheitlichen Gründen nur einmal gelungen. Und mit den berühmten Worten »To Be Thick As A Brick, Two« beendet der Meister das Hauptprogramm.
Letztes Jahr noch ohne jegliche Zugabe - geschweige denn mit den Tull-Gassenhauern "Aqualung" und "Lokomotive Breath" - wurde diesmal, vermutlich auf vielfachen Wunsch der Besucher, das Programm diesbezüglich wie schon erwähnt geändert. Als einzige Zugabe kommt natürlich die Lokomotive, auf der Leinwand und in einer tollen Performance auf der Bühne, bevor sich die Akteure mehrfach dankend verabschieden.
Mein Fazit zu dieser erneuten Aufführung: Es war - trotz optisch abgespeckter Version - ein musikalischer Hochgenuss, der nach Wiederholung schreit. Das bedeutet also: Falls Anderson wieder in Berlin ist, bin ich dabei und mit mir hoffentlich viele Andere. Der Meister der Querflöte wäre allerdings gut beraten, wenn er wieder auf die Urfassung des Vorjahres zurückgreift. Er ging dabei mehr auf das Publikum ein und kommunizierte öfter. Dadurch, dass in diesem Jahr im "TAAB2"-Teil die Songs nahtlos ineinander übergingen, wirkte es etwas in die Länge gezogen und zerrte selbst mir als hartgesottenem Konzertgänger und Tull-Fan an den Nerven. Dennoch, mit wenigen unbedeutenden Abstrichen, ein vollkommen gelungener Abend.
Vielen Dank an Janette Lerch von Go-On-Promotion und dem Concertbuero-Zahlmann für die Akkreditierung.
Line-up:
Ian Anderson (vocals, flute, guitar)
Florian Opahle (guitar)
David Goodier (bass)
Scott Hammond (drums)
John O'Hara (Keyboards, Harmonica)
Rian O'Donnell (vocals)
Setlist:
01:Thick As A Brick Part One
02:Thick As A Brick Part Two
03:Aqualung
04:TAAB2
Encore:
01:Lokomotive Breath
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