Es ist großartig, was die deutsche Musikszene alleine in diesem Jahr hervorgebracht hat. So unterschiedlich sie stilistisch auch sein mögen, haben sich Bands wie Lem Motlow, Zelinka oder Circle Of Illusion als wahre Frischzellenkur erwiesen.
Zum Jahresausklang präsentiert sich nun Charlie Rocks aus dem ländlichen Ostwestfalen. "Durch und durch" ist zwar bereits das zweite Album, aber das Debüt ("Hauptstadt" von 2009) ist uns leider irgendwie 'durchgerutscht'.
Dass es vier lange Jahre für den Nachfolger brauchte, lag (mal wieder) an überaus widrigen Umständen. Dabei war "Durch und durch" bereits vor zwei Jahren weitgehend 'im Kasten', aber Besetzungswechsel führten schließlich zur Auflösung der Formation. Die Songs lagen sozusagen im Rohzustand auf Eis.
Komponist und Texter Niels Stummeyer ließ die Sache jedoch keine Ruhe und setzte sich vor ein paar Monaten noch mal dran. Neue Songs waren dazugekommen, nicht Überzeugendes gestrichen und die restlichen Spuren neu arrangiert und komplett neu eingesungen worden. Auf diese Weise sind auf "Durch und durch" noch einige ehemalige Mitglieder von Charlie Rocks zu hören.
Lange Rede - kurzer Sinn: Das Ergebnis ist derart überzeugend, dass sich Stummeyer dringendst auf die Suche nach neuen Bandmitgliedern begeben sollte. Die Songs haben jedenfalls nahezu allesamt die Qualität zum Durchstart. Reichlich Stoff zum Nachfassen also, was wir mit einem Interview auch zu tun gedenken.
Wer ist denn dieser abrockende Charlie eigentlich? Ist es Stummeyer selbst oder MMWs Kunstfigur? Musikalisch würde letzteres Sinn machen, denn die Düsseldorfer 'Schnodderschnauze' lugt bei Charlie Rocks mehr als einmal verschmitzt um die Ecke. Auch die »Eins in die Fresse, mein Herzblatt«-Fraktion - sprich die Stones und The Who - haben garantiert ihre Visitenkarte hinterlassen. Der Gesang klingt in seiner rotzig-lässigen Weise gelegentlich an Rio den Großen, der auch in lyrischer Hinsicht seine Spuren hinterlassen haben dürfte. Love'n'Sex, Drugs'n'Alcohol...
"Der Gentleman" eröffnet gleich knackig rockend - Ähnlichkeiten mit den Stones drängen sich bezüglich der Eingängigkeit unwillkürlich auf. Überaus cool kommt der messerscharfe Bläsersatz im Outro, den man ruhig noch etwas stärker in den Vordergrund gemixt haben dürfte. "Männer sind und Frauen auch" basiert auf einem Zitat aus Loriots genialem Kinofilm "Papa Ante Portas". Der aufs Abstellgleis geschobene Familiengründer führt mit seinem pubertierenden Stammhalter bei einer guten Dose mit Königsberger Klopsen mal ein dringendes Männergespräch - »Schön, dass Du mal ganz offen über alles gesprochen hast.«
Bei "Am Himmelstor" habe ich im Refrain zunächst »...hängt ein Gulag-Schild.« verstanden. Hähähä, da war wohl der Wunsch Vater des Gedanken eines Atheisten... aber Fischers Pit ist offenbar leider nur in Urlaub.
Mastermind Niels Stummeyer lässt zumeist - glücklicherweise auf unaufdringliche Art und Weise - in sein Seelenleben blicken, sei es in der Pianoballade "Meine Ängste" oder in dem auf einem Knitterface-Gedächtnisriff basierenden "Du kennst mich nicht", die textlich als zwei Seiten der selben Medaille wahrgenommen werden können. "Du" entpuppt sich als alles andere als ein Maffay-Cover, sondern als ätzende Abrechnung mit dem Schönheitswahn.
Als mein persönlicher Liebling hat sich der Heavy-Riffrocker "Teufelsbraut" herausgeschält. Und das, obwohl der Song eigentlich als potenzielles Outtake eher ein Schattendasein fristete. Der Sinneswandel ist ein klarer Gewinn für "Durch und durch"! Mit "Mondenkind" spricht mir Charlie Rocks zum wiederholten Mal aus der Seele:
»Im Himmel sind wir alle gleich - warum nicht hier auf Erden?
Dein sei das Reich - mit welcher Kraft?
Die hier auf Erden eingespart wird?
Wir schaffen uns unser eigenes Paradies...
Über dem Himmel, über den Wolken, da sehe ich noch genug Platz.«
Nachdenklich wird so der Ausklang von "Durch und durch" eingeläutet: "Dankeschön" gilt sicherlich Niels Stummeyers Herzdame, die sicherlich das unstete Leben eines Musikers aushalten muss. [Ein Schicksal, das sie mit den Lebenspartnern von RockTimes-Redakteuren teilen mag... diese augenzwinkernde und gewiss wenig tröstliche Anmerkung konnte ich mir jetzt nicht verkneifen... ;-)] Leider waren der Promofassung keine Texte beigefügt. Mehr als einmal habe ich sie vermisst, denn teilweise sind Stummeyers Aussagen mehr als überdenkenswert.
Der Produktion fehlt vielleicht noch eine Spur fetter Speck. Vor allem Christoph Poos' Bläsersätze könnten allesamt stärker präsent sein, was auch für den Gesang bei einigen Songs gilt. Manches klingt komprimiert und leicht steril, aber bekanntlich müssen leider bei solchen Eigenproduktionen stets Kompromisse finanzieller Art geschlossen werden. Unter diesem Aspekt muss der Sound in jedem Fall als sehr ordentlich bewertet werden.
Unterm Strich bleibt festzuhalten, dass die deutsche Musikszene mit "Durch und durch" einen Rohdiamenten hervorgebracht hat, der nur auf den richtigen Feinschliff wartet. Hoffentlich kehren Charlie Rocks bald in einer neuen Bandformation auf die Bühnen der Republik zurück!
Line-up:
Niels Stummeyer (Gesang, Gitarre, Bass, Perkussion, Harp, 'virtuelle' Instrumente)
Christian Koehler (Lead-Gitarre - 1,8-10, Backing-Gesang, 1,8-10, Orgel -#8, Bass - #1,9)
Stefan Dohnke (Backing-Gesang - #9,10)
Christoph Poos (Trompete - #1,2,8)
Matt Wolff (Schlagzeug - #1,6,8,9)
Detlef Röhl (Schlagzeug - #3,5,7,11)
Simon Wupper (Schlagzeug - #2,4)
Tracklist |
01:Der Gentleman (4:48)
02:Männer sind und Frauen auch (3:26)
03:Am Himmelstor (3:06)
04:Du brauchst mich, benutz mich (3:35)
05:Du kennst mich nicht (4:30)
06:Meine Ängste (4:26)
07:Lolita (3:43)
08:Du (3:37)
09:Teufelsbraut (3:23)
10:Sexsymbol (4:42)
11:Mondenkind (4:34)
12:Dankeschön (1:28)
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