Wenn es aus musikalischer Sicht eine Sache gab, auf die Amerika Anfang der siebziger Jahre nach den geplatzten Träumen der späten Sechziger wartete, dann war es eine neue Platte, eine neue Tour, ein Irgendwas von Bob Dylan, den man in den Sechzigern als die Stimme des Volkes, den Revolutionsführer und Visionär (Manche sollen ihn gar als Messias bezeichnet haben) erkoren hatte. Als Bob dann nach jahrelangem Hiatus tatsächlich wieder Ernst machte, drehten die Wartenden natürlich wie am Rad. 40 Konzerte standen an, für die ein Kontingent von 650 000 Tickets zur Verfügung stand. Sage und schreibe fünf Millionen schriftliche Anfragen gingen bei den Organisatoren ein, was in etwa bedeutet, dass die Veranstalter mindestens zehn Millionen Eintrittskarten hätten verkaufen können.
Die letzten Tourneen, die Dylan davor (übrigens mit vier jungen Kanadiern, die später zusammen mit einem kaum älteren Südstaatler als The Band sehr erfolgreich waren) in den Jahren 1965/66 absolvierte, waren geprägt von Buh-Rufen, Pfiffen und in schlimmsten Fällen offener Aggression und Hass. Dabei war der Grund einfach nur der, dass sich ein junger Künstler, der als Folk-Musiker große Aufmerksamkeit und Respekt erlangt hatte, danach viel mehr Lust hatte Rock-Musik zu spielen und dies auch konsequent durchzog.
Es gab vereinzelte neue Scheiben und sehr rare Auftritte (beim Isle Of Wight-Festival 1969 oder bei George Harrisons Concert For Bangladesh (1971), aber diese umfassende Tour stellte ganz offensichtlich die Rückkehr von Bob Dylan dar, der bereit zu seinem nächsten Anlauf war, die Welt noch einmal von vorne zu erobern. Als seine 'partners in crime' hatte er wieder dieselben Musiker erkoren, die in den Mitt-Sechzigern mit ihm durch Himmel und vor allem Hölle gegangen waren. Ergänzt um Levon Helm, der von früh an der Leader von The Band war, die Gruppe 1965 nach einem Zerwürfnis mit Dylan aber verlassen hatte.
Sowohl die Tour wie auch das Album waren als Bob Dylan/The Band gelistet, was zum einen auf den damals hohen Popularitäts-Grad von The Band, vielleicht aber auch aus Unsicherheit von Bob (nach Jahren der Abwesenheit) und sicherlich seiner Wertschätzung und Freundschaft zu seinen Mitstreitern schließen lässt. Den Auftakt der 'Tour '74' machte das Konzert am 3. Januar 1974 in Chicago, aber bis auf ein paar wenige Ausnahmen stammen alle Tracks von "Before The Flood" vom den letzten beiden Gigs der Tour am 14. Februar in Los Angeles. Der Set bestand in der Regel aus plus/minus 18 Dylan-Songs, ergänzt von etwa neun bis zehn Songs, die The Band aus ihrem Repertoire zum Besten gab.
"Before The Flood" startet mit einem kräftig rockenden "Most Likely You Go Your Way (And I'll Go Mine)", gefolgt von dem neu arrangierten "Lay Lady Lay". Es macht sich recht schnell wieder bemerkbar, dass die Kombination Dylan/The Band eine magische ist. Bob steht selbstverständlich absolut im Vordergrund, wenn er singt. Dazwischen treten die Herren Robertson, Danko, Hudson, Manuel, und Helm aber dann ganz entscheidend in Erscheinung. Das Rhythmus-Gespann Levon Helm/Rick Danko ist eine Macht für sich, Richard Manuel ergänzt mit seinem Piano hervorragend den Magier Garth Hudson am Keyboard. Und schließlich ist da auch noch Robbie Robertson, der mit messerscharfen und punktgenauen Licks nicht nur Dylans Gesang punktuiert und akzentuiert, sondern einem mit der Qualität seines Spiels nahezu Tränen in die Augen treibt. Warum dieser Mann als Gitarrist in der Geschichte der Rock-Musik keine größere Beachtung fand, wird für mich immer ein Rätsel bleiben.
Auffallend ist, dass auf diesem Album kaum ein Dylan-Song jüngeren Datums zu finden ist. Nichts von dem brandneuen Studio-Werk "Planet Waves", nichts von "New Morning", nichts von "Self Portrait", gerade mal "Lay Lady Lay" (von "Nashville Skyline", 1969) und "Knockin' On Heavens Door" (1973) sind halbwegs aktuell. Und Bob war gereizt, wie man seinem Gesang deutlich anhören kann. Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, als wäre er auf einem Kreuzzug, um der Welt zu beweisen, dass er bereits acht oder neun Jahre davor die richtige Idee hatte und es nun allen beweisen konnte, die ihn damals auspfiffen und von der Bühne geschrien hatten.
"Rainy Day Woman #12 & 35", "It Ain't Me, Babe" oder auch "Ballad Of A Thin Man" kommen mit Wucht, auf der anderen Seite komischerweise aber auch etwas unterkühlt. Ab Song Nr. 7 gibt es dann einen Szene-Wechsel und The Band legt alles, was sie hat in ihre eigenen Tracks "Up On Cripple Creek", "The Night They Drove Old Dixie Down", "Stage Fright" oder das fantastische "Endless Highway". Und auch wenn man bei Richard Manuels Falsett-Gesang zu "I Shall Be Released" merkt, dass der Track am Ende der Tour aufgenommen wurde, so lässt er dennoch nichts von dem berstenden Feeling vermissen, das seine Vocals von jeher ausmachte.
CD 2 startet mit den Dylan-Solo-Nummern "Don't Think Twice, It's Alright", "Just Like A Woman" und "It's Alright, Ma (I'm Only Bleeding)", die allesamt fantastisch rüberkommen. Danach heißt es Vorhang auf für The Band - Teil 2, mit weiteren drei Tracks, von denen besonders das live eher selten gespielte "When You Awake" überrascht. Schließlich geht es mit "All Along The Watchtower", "Highway 61 Revisited" und "Like A Rolling Stone" ins große Finale, bevor die Zugabe "Blowin' In The Wind" das Spektakel beschließt.
Exzessiv gefeiert wurde nach den Konzerten übrigens auch. Und zwar so lange, bis zumindest einige der Musiker - wie sagt man so schön? - 'keine Schmerzen mehr spürten'. Bestes Beispiel für die Mengen und die Stärke der eingenommenen Medizin ist der Bassist Rick Danko, der es etwa zwei Wochen vor Ende der Tour irgendwie fertig brachte, sich während eines nächtlichen Gelages die rechte Hand zu brechen, dies aber noch nicht einmal bemerkte und auch die restlichen Konzerte der Tour ohne mit der Wimper zu zucken durchspielte. Gelegentlich irritiert von dem seltsamen, 'groovy' Feeling, das ihn plötzlich immer mehr in der Hand zwickte.
"Before The Flood" ist ein abendfüllendes, fantastisches Album und hat keinen einzigen schlechten Song (wenn man sich an "Knockin' On Heavens Door" und "Blowin' In The Wind" nicht schon tot gehört hat) aufzuweisen. Aber man muss auch feststellen, dass z.B. "Like A Rolling Stone" bei Weitem nicht so knallhart, kaltherzig analytisch und realistisch rüberkommt, wie auf der Studio-Version des Albums "Highway 61 Revisited".
Wobei wir exakt bei dem einzigen wirklichen Kritikpunkt dieser Doppel-CD angekommen wären. Mag sein, dass die beteiligten Musiker knapp acht Jahre nach dem letzten gemeinsamen Projekt, älter, reifer und erfahrener erscheinen, in der Zwischenzeit einfach etwas zu viel Erfolg genießen durften oder auch schlicht und ergreifend nur professioneller geworden waren: Irgendwie wirkt dieses Album jedoch… hmm… gesetzter, unterkühlter und berechnender, als die Live-Recordings der Jahre 1965/66. Rein vom Feeling her kommt man auch keinesfalls an die Aufnahmen der ca. anderthalb Jahre später folgenden 'Rolling Thunder'-Tour (ohne Beteiligung von The Band) heran. War Dylan unsicher nach so langer Bühnen-Abwesenheit? Wollte er auf 'Nummer Sicher' gehen und nicht mehr allzu viel von sich selbst preisgeben?
Lassen wir die letzten Worte dem Meister selbst, der gegen Ende der Tour in einem Interview sehr offen verlauten ließ: »Das kommt mir hier alles wie ein riesengroßer Zirkus vor. Ich spiele die Rolle von Bob Dylan und The Band hat die Rolle von The Band. Das einzige, was fehlt, ist, dass wir keine Elefanten haben. Damals,« [1965/66, Anm. d. Verf.] »als wir die Akzeptanz vom Publikum brauchten, haben sie uns in den Arsch getreten und uns aus der Stadt geprügelt. Heute spielt es keine Rolle mehr, wir müssen nicht mehr um ihre Akzeptanz betteln, bekommen sie plötzlich aber doppelt und dreifach um die Ohren gehauen. Die Tour davor war wie ein Orkan, diese hier ist eher wie ein starker Regen!«.
Haargenau auf den Punkt gebracht, Bob, und vom Rezensenten kommentarlos so stehen gelassen!
Line-up:
Bob Dylan (vocals, guitars, harmonica, piano)
Robbie Robertson (electric guitars, vocals)
Garth Hudson (organ, piano, clavinette)
Levon Helm (drums, vocals)
Rick Danko (bass, vocals)
Richard Manuel (piano, electric piano, drums, organ, vocals)
Tracklist |
CD 1:
01:Most Likely You Go Your Way (And I'll Go Mine)
02:Lay Lady Lay
03:Rainy Day Woman #12 & 35
04:Knockin' On Heavens Door
05:It Ain't Me, Babe
06:Ballad Of A Thin Man
07:Up On Cripple Creek
08:I Shall Be Released
09:Endless Highway
10:The Night They Drove Old Dixie Down
11:Stage Fright
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CD 2:
01:Don' Think Twice, It's Alright
02:Just Like A Woman
03:It's Alright, Ma (I'm Only Bleeding)
04:The Shape I'm In
05:When You Awake
06:The Weight
07:All Along The Watchtower
08:Highway 61 Revisited
09:Like A Rolling Stone
10:Blowin' In The Wind
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Externe Links:
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