"II" - ganz einfach "II" ... das passt. So heißt die Fortsetzung des großartigen Erstlingswerkes Delusion Squared der gleichnamigen Band aus Frankreich. Schon damals, 2010, bestach die Gruppe durch ihr (un)aufdringliches Understatement; und das setzt sich nun fort. Hochspannende Neo Prog-Atmosphären - zur gleichen Zeit fragil und filigran; der außergewöhnliche Gesang Lorraine Youngs - fesselnd und eindringlich, doch gleichzeitig auch so zart und verletzlich. Die Atmosphären von Delusion Squared sind auf dem Nachfolger kein bisschen weniger extravangant als auf dem Debütwerk. Es sind die scheinbaren Gegensätze, welche diese einzigartige Band zu etwas Neuem, unbedingt Hörenswerten miteinander verbindet.
Steve Francis (g, dr, keys) und Emmanuel de Saint Méen (b, keys) spielen mit den allerfeinsten stilistischen Sammlerstücken aus dem großen Prog-Fundus, der seit Jahrzehnten von den Marken Retro, Neo und Psychedelic gefüttert wird. Dabei klingen sie erstens sensationell unverstaubt und erschaffen zweitens mit einem ganz, ganz feinen Gefühl fürs Songschreiben kleine Schmuckstücke, die sich zu einem 'großen' Konzeptwerk vereinen. Die Spannungsbögen der Stücke entfalten sich ungeheuer intuitiv und sind so ziemlich das Gegenteil davon, was man in progressiven Kreisen so gern als 'ausladend' bezeichnet. Die Melodien stehen ganz klar im Mittelpunkt. Unbedingt, bei dieser Sängerin...
Die Stimme Lorraine Youngs ist die Seele von Delusion Squared. Auf sie ist alles zurechtgeschnitten. Oder ist es ganz anders und sie drückt einfach nur in ihrer besonderen Art jedem Stück ihren Stempel auf? Diese zarte, fast liebliche, klare Frauenstimme zieht den Hörer unweigerlich in ihren Bann. Und das ausgerechnet mit Lyrics, die apokalyptischer kaum sein könnten. Wir erleben die Fortsetzung einer schaurigen Science-Fiction-Szenerie ... auf der kriegsverwüsteten Erde der Zukunft haben sich ein paar Überlebende mühsam eine neue Gesellschaft aufgebaut. Doch durch einen Unfall werden die 'bösen Verwandten' zurückgerufen, die 'Gewinner' des Krieges, die die Erde nach der großen Verwüstung in großen Raumschiffen verlassen hatten.
Seelenlose Menschen - oder Maschinen? - löschen alles aus, was lebt und fühlt. Klar, dass es bei dieser Storyline auch dramatisch klingen muss. Aber wie die Band diese Dramatik erzeugt, das ist einzigartig... nämlich zumeist sehr subtil und subversiv. Bei "Recipe For Disaster", zum Beispiel. Allein der Name des Tracks verheißt ja bereits Unheil - und nicht zuletzt die Lyrics:
»From the shimmering vessels move angels of destruction
While we whisper the gospels they strafe us into annihilation«
Doch die Melodien, die Lorraine Young singt, bleiben weich und graziös. Das wirkt schon fast surreal und strahlt beim Hören eine enorme Anziehungskraft aus.
Im Hintergrund erhöht sich zwar die instrumentale Spannung, aber auch das eher im Detail. Die Atemfrequenz steigt mit wechselnden Rhythmen. Auch das feine Melodiegeflecht von Gitarre und Synthesizer lädt sich mit Spannung auf, aber - ganz typisch Delusion Squared - es bleibt extrem transparent. Sie arbeiten nicht mit großer Lautstärke: Die Dramatik entsteht nicht beim Mischen an den Reglern, sondern im feinfühlig austarierten Zusammenwirken von Harmonie, Melodie und Rhythmik. Wenn es in einem Buch spannend und dramatisch wird, ändert der Autor auch nicht die Schriftgröße und macht die Buchstaben fett. Und trotzdem steigt von Zeile zu Zeile die Spannung. Delusion Squared ist Literatur im Notensystem.
Dabei klingt die Band mitnichten monoton oder langweilig. Am Ehesten in den Sinn kommen einem sogar Referenzbands, deren Spektrum von Synthie-getriebenden Prog Rock bis hin zu Heavy Metal-lastigen Gitarrenriffs reicht, wie Arena oder Galahad. So wird "Double Vision" von einem markanten Keyboardriff geprägt; und "Necrogenesis" startet gleich mit hohem Tempo und aggressiver Gitarre. Doch auch hier bleibt der Gesamtsound kristallklar. Und Breaks und klasse instrumentale Zwischenspiele rücken solche 'Kraftakte', die stets mit der Band-typischen, eindringlichen, aber kontrolliert offensiven Atmosphäre daherkommen, an ihren Platz in der intuitiven Gesamtarchitektur. Literatur im Notensystem wird zum Kino im Kopf.
Besonders hoch ist der Pulsschlag bei "Recipe For Disaster" und bei "Revelation", das über Minuten hinweg diese feine, knisternde Spannung à la Delusion Squared zum dramatischen Höhepunkt des Albums aufbaut. Ganz weit 'oben' wirkt der syllabische Gesang ja schon fast atemlos - und genau in diesem Moment gibt es einen plötzlichen Wechsel vom staubtrockenen Heavy-Riff zur Akustikgitarre, die schon nahezu nervös das Tempo und die Spannung hält. Kein Break, also, nur ein Übergang - das Spiel mit der musikalischen Schwerkraft ist faszinierend.
Unter den insgesamt introvertierteren Stücken des Albums be- und verzaubert unter anderem "Veridical Paradise". Fast musicalhafte Klavierklänge bilden den Rahmen um eine außergewöhnlich weit ausholende und darum auch außergewöhnlich schöne Melodie der Sologitarre, die sich einige Male fast wie in Trance wiederholt. Nächstes Beispiel: "Abduction" würde mit seiner Fantasy-Atmosphäre aus edlen Akustik-Arpeggien und magischen Tastenklängen irgendwo in die Rush-Diskografie zwischen "A Farewell To Kings" und "Moving Pictures" passen. Der Gesang ist gerade hier ein Highlight: Lorraine Young imitiert die einzelnen Gitarren-Achtel in ihrer genial verqueren Rhythmik und anspruchsvollen, eigentlich völlig unsanglichen Melodie. Eigentlich...
Highlight dürfte aber ganz klar "Faith Mission" sein. Nach mehr als zwei Minuten schneidet die verzerrte Gitarre plötzlich monumentale Schneisen in eine bis dato fast stoisch-relaxte, aber zunehmend kribbelnde Akustik-Atmosphäre. Eine unwiderstehliche, leicht unheimliche Abwärtsmelodie bildet den Backdrop für eine fesselnde Hookline: Nahezu hypnotisch heißt es mit der klaren Zartheit von Lorraine Youngs Stimme: »If you want peace, prepare for war!« - immer und immer wieder, während im Hintergrund mit großer Finesse an atmosphärischen Details gebastelt wird. Zuweilen klingt "Faith Mission" wie Dream Theater, wenn sie versuchen, wie Pink Floyd zu klingen - das ist ganz groß.
Warum ist "II" nun aber im Gegensatz zum Debütalbum der Band keine jener denkwürdigen Scheiben, die wir bei Rocktimes mit unserem 'Tipp'-Prädikat auszeichnen? Nun, die Fortschreibung der Storyline ist nicht ganz so fesselnd wie ihr Beginn. Außerdem fehlen der Scheibe 'hinten raus' ein paar zündende Elemente - die letzten beiden Tracks sind zu unspektakulär. Aber am Wichtigsten ist wohl der fehlende Überraschungseffekt. Die Eigenarten dieser Band - Songwriting, Sound und Sängerin - waren anno 2010 sensationell; und "II" ist 'nur' die Fortsetzung... freilich erneut mit etlichen Momenten zum Niederknien. Das hier ist Kritik auf ganz hohem Niveau. Delusion Squared behalten ihren Diamantenstatus im Prog-Universum. Oder wollen wir uns darüber beschweren, dass es im Himalaya zu wenige Mount Everests gibt?
Line-up:
Lorraine Young (vocals, acoustic guitars)
Emmanuel de Saint Méen (bass, keyboards)
Steven Francis (guitars, drums)
Guest musicians:
Emmanuelle, Clara (additional backing vocals)
Jacques 'Maestro' Savona (additional keyboards)
Tracklist |
Providence
01:Double Vision (6:33)
02:Necrogenesis (7:02)
Primordial Sin
03:Faith Mission (6:39)
04:Recipe For Disaster (7:56)
05:Veridical Paradox (4:11)
Oblation
06:Revelation (7:27)
07:Abduction (5:44)
Atonement
08:Naked Solipsism (6:01)
09:Unexpected Messiah (8:08)
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