Focus / X
X Spielzeit: 49:39
Medium: CD
Label: 4Worlds Media, 2012
Stil: Prog Rock

Review vom 30.11.2012


Joachim 'Joe' Brookes
Das waren noch Zeiten. Gegründet 1969, kann Focus mittlerweile auf einen über vierzigjährigen Werdegang zurückblicken. Unterm Strich kommt man natürlich auf eine andere Zahl, denn die niederländischen Prog-Rocker nahmen sich eine nicht unerhebliche Auszeit. Jan Akkerman verließ die Combo 1976 und widmete sich seiner Solokarriere. 2001 neuformiert, ist nun Menno Gootjes der Herr der dünnen Saiten.
Schön der Albumchronologie folgend, ist "X" sechs Jahre nach "Focus 9/New Skin" auf dem Markt. Wer Anfang der Siebzigerjahre seine Umwelt bereits voll wahrnehmen konnte, dem ist nicht nur die Nummer "Hocus Pocus" mit dem jodelnden Thijs van Leer bekannt. Etwas übertrieben, ist der Keyboarder, Querflötist und Sänger van Leer definitiv aus dem Alter raus, sich in bajuwarischer Manier zu artikulieren, aber, wie sich an einigen Stellen des Albums zeigt, hat er immer noch den Schalck im Nacken, oder, wie man auch sagen kann, er hat einen Clown gefressen ("Talk Of The Clown").
Genau bei dieser Nummer habe ich mich beim ersten Hördurchgang gefragt, was dieses Stück nur auf "X" zu suchen hat? Aber irgendwie passt es dann doch in das frische, richtig interessante Album. Die Scheibe reicht in Gänze nicht an die Platten der ersten Focus-Generation heran, aber Vorsicht ... schwach aus der Brust sind die zehn Nummern keineswegs.
Mit dem Opener "Father Bacchus" geht es direkt in die Vollen. Eine Bandansage vermittelt so etwas wie Liveatmosphäre und vom Gaspedal her ist die Menno Grootjes-Komposition ganz dicht bei "Hocus Pocus". Der Gitarrist sorgt mit seinem ersten Solo definitiv für mehr als nur Aufmerksamkeit. Man spürt in vielen Phasen, dass er ohne Probleme auf mehreren Genre-Stühlen bequem Platz nehmen kann, denn in den ersten etwas über vier Minuten verdeutlicht die Band dem Hör-Neuling, in welche Stilrichtungen die Musik gehen kann.
Mit "Focus 10" zeigt sich die Band immer noch sehr versiert im Jazzgenre beheimatet und da gibt es schon das nächste Lob für Menno Grootjes, der dem Track im Twinsound mit Thijs van Leers Keyboards einen besonderen Pfiff gibt. Diese Rezension wird keine Gitarristen-Lobhudelei, aber der Mann ist einfach toll.
Mit "Victoria" möchte man abends ins Bett gehen und morgens neben ihr wach werden. Von einem sentimentalen Beginn über geradezu hymnenhaft-perlende Keyboardparts, rockiger Gitarrenmelodie bis hin zu funkiger Betriebsamkeit wird verdammt viel Stoff in diesem Song platziert und hier sollte Thijs van Leer natürlich auch als hervorragender Querflötist Erwähnung finden.
Beim Titel "Amok In Kindergarten" kann einem schon ohne einen Ton gehört zu haben, schummrig werden. Allerdings macht Focus abermals ein, aus meiner Sicht, brillantes Fusion-Fass auf. Das Quartett trifft den Nagel auf den Kopf ... eine Stimmung, die so typisch ist für die Band. Menno Gootjes sowie Thijs van Leer müssen einander gesucht und gefunden haben. Die Prog-Sternenkonstellation passt bei den beiden Musikern perfekt und Bobby Jacobs sowie Pierre van der Linden sind eine höllisch gute Rhythmusfraktion.
Nicht alle Stücke sind Instrumentals. Man sollte es kaum glauben, aber in "Birds Come Fly Over (Le Tango)" kreieren Querflöte und akustische Gitarre ein wechselndes Ambiente und es singt einer der Gäste: der brasilianische Pianist, Komponist und Sänger Ivan Lins. Der hat genau die richtige Stimme für diesen in seinem kompletten Arrangement dramatischen Track. Dann sollte Berenice van Leer noch Erwähnung finden. Sie singt in "Crossroads", einem jazzigen Rocker mit lateinamerikanischer Percussion-Rhythmik und über allem schwebender Querflöte. Für "Hoeratio" aktiviert Thijs van Leer die untersten Stufen im Keller seiner Stimme und spricht einem Mönch gleich den von Horatio stammenden lateinischen Text. Hammer!
Focus hat mit "X" ein sehr interessantes Album veröffentlicht, das die musikalische Vielfalt der niederländischen Band mit ihrem Hang zur Klassik voll zum Vorschein bringt. Auf den ersten Blick erkennt der fachkundige Leser, dass das Cover von Roger Dean stammt.
Line-up:
Thijs van Leer (Hammond organ, flute, vocoder, vocals)
Menno Gootjes (guitars)
Bobby Jacobs (bass)
Pierre van der Linden (drums)

Guests:
Ivan Lins (vocals - #6)
Berenice van Leer (vocals - #10)
Tracklist
01:Father Bacchus [Menno Gootjes] (4:04)
02:Focus 10 [Thijs van Leer] (5:48)
03:Victoria [Thijs van Leer] (5:28)
04:Amok In Kindergarten [Thijs van Leer] (5:00)
05:All Hens On Deck [Thijs van Leer] (5:45)
06:Birds Come Fly Over (Le Tango) [Music: Thijs van Leer/Words: Roselie Peters] (5:26)
07:Hoeratio [Music: Bobby Jacobs/Words: Horatius] (5:38)
08:Talk Of The Clown [Thijs van Leer] (2:59)
09:Message Magique [Ben van der Linden] (3:53)
10:Crossroads [Music: Thijs van Leer/Words: Roselie Peters] (5:39)
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