Dass die hier zu behandelnde britische Formation ein wirklich sehr bedeutendes Kapitel in der populären Musikgeschichte mitgeschrieben hat, braucht man Genrekennern und Retroenthusiasten nicht mehr unter die Nase zu reiben.
Genesis gehören wohl zu den herausragendsten Progressive Rock-Bands auf unserem Planeten und haben eine erstaunliche Vielzahl wertvoller Tondokumente hinterlassen.
Seit ihrer wahrscheinlich letzten gemeinsamen Tour, 2007, mit Frontmann Phil Collins,
spekulierten die Medien und Fans weltweit immer noch auf eine konzertante Reunion mit dem exzentrischen Performer und Soundtüftler Peter Gabriel, der wohl bis zu seinem Ausstieg 1975 die innovativste Phase der Band begleitete bzw. förderte.
Dieser Wunschtraum scheint mittlerweile endgültig zu verblassen, weil Gabriel
mit Medienprojekten für seine Real-World Organisation und Studioproduktionen seiner Labelkünstler voll ausgelastet zu sein scheint, und Collins seine Pensionskasse lieber mit Musikarrangements für getanzte Affentheater aufbessert.
Da kommt für den wahren Genesis-Liebhaber das Trostpflaster in Form des dritten Box-Sets gerade recht, das die fünf Originalalben der frühen Peter Gabriel-Jahre 1970 bis 1975 sowie ein zehn Titel umfassendes Album mit Raritäten, genau wie in den vorherigen Editionen, als Doppel-Packung enthält. Das heißt, der Inhalt glänzt mit sieben auf jedem CD-Gerät abspielbaren Hybrid-SACDs (Stereo und/oder 5.1 Surround Sound) und sechs Audio-DVDs (Dolby Digital/oder DTS 5.1 Surround Sound), nebst teils sensationellem, visuellen Bonus-Material samt umfangreichen Interviews mit allen damaligen Bandmitgliedern.
Der stolze Kaufpreis der Box wird die gemeinen Fans und Soundfetischisten mit Sicherheit
nicht abschrecken, deren Weihnachtsbraten sich dieses Jahr lieber etwas magerer gestalten wird, als auf diese längst überfällige Veröffentlichung zu verzichten.
Auch diesmal wurden die original Masterbänder benutzt und unter der Regie von Tonmeister Nick Davies klangvolle Stereo bzw. 5.1 Umrund-Mixe erstellt.
Nun liegt mir als Rezensionsvorlage leider nur ein kleiner Auszug in Form einer Promo-CD und Promo-DVD vor, deren Inhalt nur sporadisch einen minimalen Eindruck der Gesamtausgabe zu vermitteln vermag.
Natürlich wurde bei der Produktion wieder alles darangesetzt, das verstaubte und oftmals dumpfe Klangbild einer Frischzellenkur zu unterziehen, ohne dabei grundlegende Veränderungen zu riskieren, was nicht immer vollendet gelang.
Tracklist Promo-CD:
01:Happy The Man
02:Resignation
03:The Knife
04:Harold The Barrel
05:Musical Box
06:Get Em Out By Friday
07:I Know What I Like (In Your Wardrobe)
08:Cinema Show
09:Counting Out Time
10:Carpet Crawlers
Das wenig spannende "Happy The Man" wurde 1972 ursprünglich nur auf einer Fanclub-Promo-EP veröffentlicht, und neben "I Know What I Like" bereits auf der Tour-Edition von "Turn It On Again: The Hits" im neuem Klanggewand veröffentlicht.
Bei Letzterem beispielsweise wurden beim einsetzenden Flötensolo Abstriche fabriziert, d.h. dieses merklich in den Hintergrund gemischt.
Auf dem vorliegenden Appetitshäppchen gibt es aber auch einige technische Höhepunkte zu entdecken, wie das feinnervig an belebender Struktur gewonnene "Carpet Crawlers" mit seinem harmonisch schreitenden Rhythmus nebst dem exzellenten Hintergrundsgesang von Collins sowie das wundersame "Counting Out Time", dessen Spiel mit dem Liedgesang jetzt mehr Esprit versprüht.
Das Gleiche gilt für "Get'em Out By Friday", welches man vom allzu muffigen Sound entrümpelt und damit jetzt vorteilhaft belüftet hat.
Die meiste Aufmerksamkeit dürften bei den Fans wohl die wiederentdeckten BBC Radio-Aufnahmen vom 09.01.1970 wecken, wobei auf dem Promo-Sampler das völlig unspektakuläre Instrumentalstück "Resignation" einen Platz gefunden hat.
Letztendlich kommt man bei dieser, für die Medien bestimmten CD-Zusammenstellung zu der Erkenntnis, an der falschen Stelle bei der Songauswahl gespart zu haben, was wohl nicht unbedingt von einer grundierten Fachkompetenz zeugt.
Tracklist Promo-DVD:
01:The Knife
02:The Musical Box
03:Watcher Of The Skies
04:Firth Of Fifth
05:Twilight Alehouse
06:In The Cage
Der DVD-Sampler hingegen lässt einige neue Surround-Abmischungen erklingen, die uns den zeitgemäßen Hörgenuss im satten DTS 5.1-Ton vermitteln (24bit/96k), was übrigens einer SACD relativ nahe kommt.
"The Knife", einer der ersten wirklich wichtigen Songs im Repertoire der Band, die das zugehörige erste Album "Trespass" noch mit Schlagzeuger John Mayhew und Gitarrist Anthony Phillips im Juli 1970 fertig stellten, bevor Phil Collins und Steve Hackett das legendäre Line-up begründeten. Diese aggressive Nummer über einen Revolutionär wurde mit seinem aufregenden Arrangement minimal aufpoliert, dafür aber gesangstechnisch panoramahaft gestaltet, was die Puristen wiederum in Glückstaumel versetzen dürfte.
"The Musical Box", ein Gabrielsches Kindheitstrauma, ein klangvolles, phantasieerfülltes Psychodrama, sucht wohl vergeblich seinesgleichen in der Kompositionskunst der frühen Genesis.
Auch noch 38 Jahre später übt die Geschichte über ein junges Mädchen, welches während eines Kricketspiels seinen Partner enthauptet, dessen gealterter Geist anschließend einer Spieldose entspringt, musikalisch wie auch textlich ihre Faszination aus.
Wenn man bedenkt, dass hierbei nur 16-spuriges Grundmaterial zur Verfügung stand, ist diese Neuabmischung zweifelsohne ein Juwel der Tontechnik, hat der Song mehr klangliche Crescendo dazugewonnen.
"Watcher Of The Skies" dagegen wirkt nun von Anfang an dramatischer, lässt Mike Rutherfords eindringlichen Stakkato-Rhythmus und Collins flüssiges Spiel mehr transparenten Raum, welcher sich ebenso dynamisch beim fulminanten Finale entschleiert.
Das Epos "Firth Of Fifth" vom "Selling England By The Pound"-Album (September 1973) protzt wohlverdient mit seinem stilistisch unkopierbaren Gitarren-Solo von Meister Hackett und zählt auch heute noch zu den stärksten Arrangements der Briten.
Die 5.1-Version lässt perkussive Elemente auferstehen, welche vorher nie vernehmbar waren, selbst beim Flöten- bzw.Tastenintermezzo kann man ein leises Klagen von Collins heraushören, und Hacketts Saitenzauberei als zentrales Lautsprecherereignis erleben.
Das seinerzeit als B-Seite von "I Know What I Like" erschienene "Twiligth Alehouse", ein
Überbleibsel aus "Nursery Cryme"-Zeiten, kann beim Gesang und Flötenspiel von Herrn Gabriel punkten, ansonsten schien das gering ausdifferenzierte Basismaterial nicht mehr herzugeben.
Das Doppelalbum "The Lamb Lies Down On Broadway" (November 1974) steht wohl für Genesis' ambitioniertestes Werk und ist ein Karrierewendepunkt ihres Werdeganges. Der Druck auf Peter Gabriel während der Arbeit daran, und sein später, endgültiger Ausstieg aus der Band, sind resümierend als musikalisch konzeptionelles Psychogramm und sehr intimes Vermächtnis zu verstehen. Gabriels Text thematisiert darin die Entfremdung und die Problematik einer gespalteten Persönlichkeit, und realisiert die komplexe Geschichte seines fiktiven Helden Rael als hollywoodreifes aufwändiges Bühnen-Abschiedsevent.
Als Referenzsong daraus wurde "In The Cage" ausgewählt, dessen Liveversion diverser Konzertmitschnitte immer mehr instrumentales Potential vermittelte und versucht, den gruftigen Klangteppich der alten Stereo-Bänder mottenfrei zu präparieren. Toningenieur Nick Davies ist es gelungen, Collins nebst Banks temporeiche
Rhythmusvorgabe, Hacketts brachialer Gitarre und Rutherfords manischen Bassläufen, mehr Schärfe und Klarheit zu entlocken.
Man kann damit diesem Appetizer zweifelsohne den Reiz auf das gesamte reanimierte Produkt
nicht absprechen, auch wenn dieser Promotion-Verschnitt nur einen verzerrten bzw. wenig repräsentativen Höreindruck der Box vermitteln kann.
Ansonsten werden sich die Liebhaber jener Jahrhundertformation bzw. musikalischen Väter des Neo Prog, welche sich schon im Besitz der bereits erschienenen zwei Boxsets befinden, dieses wichtige Bandkapitel sowieso schon zu den alten Platten in die Vitrine gestellt haben. Alle Anderen sollten angesichts des Preises abwägen, unbedingt sämtliches Genesis-Material besitzen zu müssen, oder als High-End-Fetischist sich am exzellenten Klangbild zu laben. Und wer weiß, vielleicht bekommen die Fans doch noch einmal eine Chance, ihren Kindern diese bedeutende Band, in dieser Besetzung, auf weniger monumentalen Konzertbühnen zeigen zu dürfen.
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