Junge, Junge!
Ich muss mich erst mal sammeln!
Da fahre ich ungefähr seit 1982 mit immer größer werdender Begeisterung zu Livekonzerten aller Art, zwischen Shakin' Stevens(!?), Engelbert Humperdinck(!!??), Heinz Rudolf Kunze, Jule Neigel(!?), Melissa Etheridge, Tina Turner, The Hooters, Paul Rodgers inkl. Neal Schon, Southside Johnny inkl. Little Steven, Van Zant, John Mellencamp, Tom Petty, Bruce Springsteen, B.B.King, Eric Clapton, Pretty Things, Walter Trout, Jeff Healey, Paul McCartney, Rolling Stones, U2, Metallica, AC/DC, Santana, Lynyrd Skynyrd, Molly Hatchet, Toten Hosen und David Helfgott(!!!) habe ich wirklich n i c h t s ausgelassen, aber d a s(!!!) habe ich wahrlich noch nie erlebt:
Exakt beim fünften Stück von Gov't Mule in der geschichtsträchtigen 'Grossen Freiheit 36' schossen mir ungehindert und unwiderruflich die Tränen in die Augen!
Und zwar ausschließlich als Folge einer riesigen emotionalen Überwältigung!
Rückblende:
Nach einem Wochenende mit einer feuchtfröhlichen Hochzeitsfeier von guten Freunden und einem musik- und gerstensaftintensiven 68er-Treffen (nein, nein, nicht die legendäre Generation, sondern Jahrgangs-68er!) fuhr ich am Sonntag ziemlich angeschlagen und hundemüde nach Hamburg, um die (neuen) Götter des Southern-Blues-Jam-Rocks bei ihrem aller ersten und einzigen Deutschland-Gig zu bewundern.
Die Hinfahrt war ziemlich strange, bereits in Oldenburg, bevor es so richtig los ging, gab's einen Stau wegen Unfall und als ich schließlich Hamburg erreichte, pflasterten dort unzählige weitere Unfälle meinen Weg, bis hin zu einem von mir beobachteten "Attentats" eines Taxis, welches amokmäßig ein anderes von der Bahn kollidierte. (Einige Fans fuhren da entspannter).
Heilfroh, ohne Schäden durch den offensichtlich gemeingefährlichen Hamburger Stadtverkehr gekommen zu sein, stellte ich schließlich unweit der großen Freiheit mein Fahrzeug ab und begab mich zu selbiger. Für mich eine Premiere, denn erstaunlicherweise war ich bisher noch nie dort gewesen.
Offenbar ein Fehler, denn das Teil atmet einfach Historie und Atmosphäre!
Vor dem Gebäude standen bereits Hunderte von erwartungsfrohen Mule-Heads und ein etwas intensiverer Blick auf die Leute verriet mir, definitiv bei einer sozio- und subkulturellen Milieuveranstaltung gelandet zu sein!
Herrlich, so viele Alt-, Post-, Neo- und Gelegenheitshippies auf einem Haufen hatte ich bisher noch nicht gesehen. Hier sind die Haare (sofern noch vorhanden) richtig lang, die Shirts richtig bunt und die Joints kreisen. Bereits draußen vor dem Eingang wurde mir ob des süßlichen Geruchs in der Luft richtig schwummrig!
Zudem scheinen alle Mule-Heads ausgewiesene Musikfreaks zu sein, denn mindestens die Hälfte aller Besucher outete seine Präferenzen durch diverse Kleidungsmerchandiseartikel, wobei zwischen AC/DC, Iron Maiden, Santana, Grateful Dead (logisch!), Allman Brothers (logisch!!), Lynyrd Skynyrd, Joe Bonamassa, Eric Clapton, Rolling Stones usw. die ganze Palette der signifikanten (klassischen) Rockmusik vorhanden war.
Entsprechend ging es drinnen vor dem Merchandise-Stand zu wie auf dem Rummelplatz. Aber analog zu dem Eindruck, dass Gov't Mule dem Thema Europa bisher wenig Beachtung schenk(t?)en (nur insgesamt 7 Konzerte in ganz Europa!) gestaltete sich dieser Stand ausgesprochen spärlich, so dass der Schreiberling dieser Zeilen lediglich noch ein Tour-Shirt in Medium-Größe (bin glücklicherweise ziemlich schmal gebaut) ergattern konnte (es gab insgesamt nur zwei verschiedene Designs, ansonsten gar nichts -vielleicht bereits ausverkauft?- außer diverse CDs).
Offenbar hat die Band das Interesse an ihnen in Europa kolossal unterschätzt. Da das Hamburger Konzert das letzte ihrer kurzen Euro-Tour war, war wohl bereits fast alles an Merchandising verkauft. Darüber hinaus sollte das Konzert ursprünglich im eher winzigen Logo stattfinden, wurde dann aber sehr schnell in die Grosse Freiheit verlegt. Und diese war an diesem Abend restlos ausverkauft!
Die Leute reisten offenbar aus ganz Deutschland an, alleine, in kleinen und großen Gruppen, wo kurzfristig ausgefallene Kollegen noch für Tickets für Kurzentschlossene sorgten. Alleine das, was ich durch kurze Gespräche oder durchs Mithören in Erfahrung bringen konnte, spannte den Bogen von Köln, über Dortmund, Hannover, Berlin bis hin zu Usedom(!).
Das Konzert:
Ziemlich pünktlich um kurz nach 21.00 Uhr ist es endlich soweit. Licht aus, Spot an, vier Männer entern die Bühne und über Tausend erwartungsfrohe ZuschauerInnen und -hörerInnen (vielleicht 10% weiblich, 90% männlich) flippen aus! Hier hat die sprichwörtliche hanseatische Zurückhaltung keine Chance!
Mastermind Warren Haynes grinst kurz, macht zum ersten Mal an diesem Abend (und nicht zum letzten Mal!) das Victory-Zeichen (hat aber in diesem subkulturellen Kontext sicherlich eher eine Peace-Symbolik!), schnallt sich seine erste von ca. 4 verschiedenen Gitarren um und haut uns allen das Eingangsriff von "Lola Leave Your Light On" vom aktuellen Album Deja Voodoo um die Ohren.
Wow, der Sound ist vom ersten Ton an fantastisch, was ob der altehrwürdigen und relativ niedrigen Bauweise (trotz Rundum-Balkon) der Grossen Freiheit nicht zu erwarten war.
Bei diesem Stück kocht sofort der Saal und schüttelt die Mähnen nach den an Led Zeppelin gemahnenden Grooves.
Überhaupt Led Zeppelin, nicht nur dass später im Konzert "No Quarter" vom "Houses Of The Holy" - Album gecovert wird (übrigens wie alle Coverversionen, die Gov't Mule bringen, in einer absolut eigenständigen und hochspannenden Interpretation!), nein, die gesamte Intensität, Energie, Ausstrahlung, Klasse, Dynamik, Kompaktheit trotz zum Teil ellenlanger Stücke mit viel Raum zu Improvisationen der Bandperformance lässt mich unwillkürlich daran denken, dass hier und heute die wirklich einzig wahren legitimen Erben dieser legendären Rockinstitution auf der Bühne stehen, auch wenn sie musikalisch nur bedingt vergleichbar sind.
Alleine dieses Gefühl lässt mich sämtliche Müdigkeit in den Knochen und im Kopf vergessen und ich tauche zusammen mit dem begeisterten Publikum tief ein in die Welt von "Government Mule".
Es folgen "Bad Man Walking" (ebenfalls vom aktuellen Album), das vorwärtstreibende "Bad Little Doggie" vom 2000er "Life Before Insanity" - Album und ein traumhaft druckvolles "She Said, She Said" vom 98er Überalbum "Dose" (gehört in jede ansatzweise seriöse Rocksammlung!). Bis hierher sind bereits alle Fronten geklärt. Die beiden neuen Bandmitglieder Andy Hess (vorher eine "schwarze Krähe" - Black Crowes) am Bass und Danny Louis an den Tasten fügen sich hörbar gut in den Gesamtsound ein, setzen aber durchaus individuelle Akzente!
Andy Hess mit einer sehr "swingenden" Spielweise, Danny Louis durch eher jazzige Leuchtpunkte an Hammond(!) Orgel und E-Piano. Warren Haynes spielt seine unvergleichlichen Tunes mit der auf den Bildern zu sehenden Gitarre und seiner ansonsten bevorzugten Gibson Les Paul, immer mal wieder mit Slide- und Wah-Wah - Einlagen angereichert, manchmal gar mit spacigen Effekten!
Ja, und Matt Abts an den Drums ist schlicht und ergreifend eine Entdeckung für sich!
Rhythmisch, donnernd, ausgefuchst, abwechslungsreich, mit Swing und gleichzeitiger Wucht bearbeitet er sein eindrucksvolles Drum-Kit, einschließlich einer kleinen Percussion-Abteilung. Wofür andere Bands zwei oder gar drei Drummer benötigen, Matt Abts spielt alles in Personalunion!
Tja, und dann kommt "Wine And Blood", eines von vielen großartigen eher ruhigen Stücken auf "Deja Voodoo", Haynes zelebriert die hohe Kunst der Emotionsgitarre und des unglaublich intensiven, gefühlvollen Gesangs und es ist um mich geschehen!
Ich stehe da, in Tränen aufgelöst, und für mich beginnt per sofort eine neue Zeitrechnung in der Musik.
Irrerweise folgt anschließend gleich die Haynsche Königsnummer "Soulshine", erstmals 1993 von Larry McCray auf dem Album "Delta Hurricane" interpretiert, dann 1994 auf dem Album "Where It All Beginns" der Allman Brothers Band von Warren Haynes höchstpersönlich intoniert und fortan bei keinem Gig mehr wegzudenken, an dem Mr. Haynes persönlich teilnimmt.
Spätestens ab diesem Zeitpunkt bedarf es keinerlei stofflichen Stimulanzien, um in einen tiefen, schwer emotionalen Rausch zu verfallen!
Fast wie in Trance nehme ich begeistert wahr, dass uns Gov't Mule mit einer weiteren Nummer aus dem "Dose" - Album ("Larger Than Life") erfreuen, um anschließend doch tatsächlich "Low Spark Of High Heeled Boys" von Traffic zu interpretieren. Nicht unbedingt sofort heraushörbar, denn diese fantastische Band versteht es wie wohl keine zweite auf diesem Planeten, Motive einer Vorlage aufzunehmen, mit eigenen Ideen zu verweben um schließlich eine gänzlich eigene Kreation daraus zu improvisieren!
Nach einem wiederum enorm druckvollen "Slackjaw Jezebel" vom aktuellen Album geht's zur allgemeinen Erholung aller Sinnesorgane erst mal in eine ca. 20minütige Pause.
Diese endet mit einem weiteren Paukenschlag. Sphärische Klänge von Danny Louis leiten ein weiteres Mal ein Déjà-vu-Erlebnis mit der Materie der Rockmusik ein, denn im weiteren Verlauf schält sich doch tatsächlich "No Quarter" von Led Zeppelin heraus. Von diesem Augenblick an scheint keine Nummer mehr kürzer als 10-15 Minuten zu sein, Gov't Mule sind endgültig in ihrem Element angekommen und das euphorisierte Publikum gleich mit!
Alle Stärken des ersten Sets multiplizieren sich jetzt um ein Vielfaches und meine Kinnlade bleibt beständig offen.
Es folgt das programmatische "Mule" vom ersten Album, anschließend gibt es, quasi als Kontrastprogramm, einen puren Blues ("Ain't Nobody's Business", Jimmy Witherspoon, 1949) der Extraklasse. Niemand Geringerer als B.B. King hat u.a. diesen Song gecovert und Warren Haynes zeigt uns allen in verblüffender Manier, dass er nicht nur die Lektionen eines Jimi Hendrix oder Jimmy Page gelernt hat, nein, er spielt quasi ein Tribute für B.B. King, so dass ich selbigen im Geiste wild applaudieren sehe und mir fast schon wieder die Tränen kommen!
Was kann danach noch kommen? Ganz einfach, das epische, sphärische, eventuell gar an Pink Floyd gemahnende "Silent Scream" vom aktuellen Album, wie alle neuen Stücke frenetisch bejubelt, was im Allgemeinen ja eher ungewöhnlich ist.
Mittendrin bekommt Matt Abts, nachdem seine Kollegen bereits individuell brillieren durften, sein Spotlight. Normalerweise gehen heutzutage alle Konzertbesucher an die Theke oder auf den Lokus, wenn eine Band es wagt, ein Drumsolo ins Programm zu hieven, aber an diesem Sonntagabend ging niemand an eine Theke oder auf den Lokus! Mit wachsender Begeisterung verfolgen wir staunend, was theoretisch mit so einer Schießbude alles möglich ist. Phänomenal, mit Worten nicht wiederzugeben, Leute, das müsst ihr einfach selbst erlebt haben!!!
Damit die Spannungskurve nicht abfällt folgt als nächstes "Rocking Horse" vom Debütalbum, eine begnadete Live-Nummer und bereits mit der Allman Brothers Band perfektioniert, hier und heute in einer gänzlich noch gar nicht gehörten Variante. Wiedereinmal verblüffend!
Dann kommt eine weitere Überraschung. Manche jubeln bereits, wo ich noch die gehörten Klänge einordnen muss. Dann aber fällt bei mir der Cent, jawohl, wir hören "All Along The Watchtower" in der wohl gigantischsten Version aller Zeiten! Dieses komplexe Zusammenspiel, dass akzentuierte Auseinanderfallen bekannter musikalischer Motive und die bruchlose Rückkehr ins harmonisierte Zusammenspiel und das Wiederfinden des Motivs, einfach unglaublich!!!
Es schließt sich ein fulminantes und mitreißendes "Driving Rain" von der Bonusdisc der US-Ausgabe von "The Deep End Volume 2" an und mündet schließlich in eine Art Medley, "Young Mule Blues" genannt, wo ich vor allem den alten Klassiker "Good Morning Little School Girl" als musikalisches Leitmotiv wiedererkenne, meilenweit von der Version von beispielsweise Ten Years After entfernt und meilenweit spannender und aufregender!
Nach ca. 20 Minuten ist dieser Husarenritt dann beendet und eine inzwischen etwas erschöpfte Band (was Wunder!!!) winkt ins ebenfalls erschöpfte Auditorium, natürlich nicht ohne die mittlerweile von allen begeistert aufgenommene Peace-Symbolik und verschwindet hinter der Bühne. Wir geben trotz der gewaltigen Eindrücke, die da zuvor auf uns eingeprasselt sind alles und klatschen und johlen die Band zurück auf die Bühne. Es ist inzwischen 00.08 Uhr.
Warren Haynes greift noch mal beherzt in die Seiten, Matt Abts treibt die Band vor sich her, Andy hält den Groove zusammen, Danny haut in die Tasten und plötzlich befinden wir uns mitten in Neil Youngs "Keep On Rocking In The Free World"!
Wow, um mich herum ist die Hölle los, was für ein grandioser Abschluss dieses noch grandioseren Konzerts!
Punkt 00.15 Uhr geht die Saalbeleuchtung an, und ich begebe mich musikalisch und emotional volltrunken nach draußen auf die Reeperbahn. Ich habe für selbige in diesem Moment aber absolut keinen Blick, sondern fahre ganz langsam und vorsichtig mit dem Gefühl nach Hause, einen Abend erlebt zu haben, den ich einerseits bestimmt nie vergessen werde und der andererseits womöglich mein Leben ein kleines bisschen verändert hat.
With peace in my heart.
Bilder vom Konzert
Vielen Dank an den Fotografen alexander dbtr, der uns die folgenden Bilder zur Verfügung gestellt hat. Den Link zu seiner Seite findet Ihr, wie immer, unten im Linkblock. Ein Besuch lohnt sich.
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