So ganz kann sich der Schreiber des Ärgers über diese Collectors Edition nicht erwehren. Brauchte Ian Anderson eine kleine Finanzspritze? Das Mutterhaus EMI ohnehin... Die CD 1 von "Stand Up" entspricht im großen und ganzen der remasterten Version von 2001, der noch zwei Alternate Takes und zwei US-Radiospots hinzugefügt wurden. Die CD 2 ist völlig in Ordnung und bringt einen Live-Auftritt von 1970 in New Yorks Carnegie Hall. Aber was, bitte schön, soll diese DVD? Es handelt sich lediglich - wenn auch soundtechnisch aufgemotzt - um die Aufnahmen der CD 2, die zu einem Standbild des Covers abgenudelt werden. Dass da als Bonus noch ein Interview mit dem 'Meister' aus diesem Jahr hinzugefügt wurde, ist fast nebensächlich. Hier hat der Schreiber schon längst wütend die DVD aus dem Player befördert.
"Stand Up" hat in der Historie Jethro Tulls eine ganz herausragende Bedeutung: Es war, kurz nachdem es 1969 erschienen war, das erste # 1-Album in ihrer britischen Heimat... und gleichzeitig auch das Letzte. Nie wieder sollte ihnen dieses Kunststück gelingen - nicht mit Aqualung, nicht mit "Thick As A Brick" und schon gar nicht mit dem herrlichen "Songs From The Wood". Fortan waren Tull in den US regelmäßig erfolgreicher, mit "Thick As A Brick" und "A Passion Play" gar an der Spitze der Billboard-Charts.
"J-Tull Dot Com", der letzte Studio-Output der Briten, liegt nun auch schon wieder elf Jahre zurück und obwohl sich das Album relativ gut verkaufte, bot es doch wenig mehr als Mittelmaß. Folglich spielte das Album bei den beiden Gigs, die ich in den letzten Jahren erleben konnte, im Repertoire keine Rolle. "Stand Up" dagegen schon: "Bouree", "Nothing Is Easy" und natürlich der "Fat Man" sind aus einem Tull-Set nicht wegzudenken.
Vor den Aufnahmen zu "Stand Up" hatte ein Gründungsmitglied, Gitarrist Mick Abrahams, nach musikalischen Differenzen mit Ian Anderson das Handtuch geworfen. Er wollte den bluesigen Grundton des Debüt-Albums This Was beibehalten. Anderson setzte sich mit seinen folkloristischen Ambitionen durch und ersetzte ihn durch Martin Barre, der sein Wegbegleiter bis in heutige Tage bleiben sollte. Erstmals hatte der Schotte also die vollständige Kontrolle über Musik wie Texte übernommen und sollte sie nie wieder aus der Hand geben. Auch instrumental dominiert er "Stand Up", hat er doch außer E-Gitarre, Bass und Schlagzeug alle Instrumente gespielt.
Den Blues Rock findet man nur noch beim Opener "A New Day Yesterday", das Joe Bonamassa Jahrzehnte später ausgraben sollte. Stattdessen kamen 'folkige' und keltische Einflüsse - wie in dem wohl bekanntesten Song des Albums "Fat Man" - stärker zur Geltung. Auch die Klassik, man beachte die Anderson'sche Bearbeitung von "Bouree" ( J. S. Bach), sollte in folgenden Alben eine stärkere Bedeutung erhalten. "Stand Up" legte also den Grundstein für die Tull-Klassiker "Benefit", "Aqualung" und folgende, obwohl diese deutlich rockiger angelegt waren.
Mit "A New Day Yesterday" ist der Einstieg intelligent gewählt, verbindet dieser Blues-Rocker doch den 'alten' Sound der Band von "This Was" mit dem Neuen, was nun folgen sollte. Gleich das folgende "Jeffrey Goes To Leicester Square" präsentiert sich als eine intelligente Verschmelzung verschiedener Folkelemente. "Bouree" ist natürlich die Granate auf "Stand Up". Diese Bach-Adaption mit jazziger Grundstimmung und wilden, eher 'folkigen' Flötensoli kann zusammen mit "Locomotive Breath" zu DEN Klassikern Tulls gezählt werden.
Wunderschön schmiegt sich die überwiegend akustisch arrangierte Ballade "Look Into The Sun" zwischen die rockigeren Stücke "Back To The Family" - das sogar reichlich 'heavy' daherkommt - und "Nothing Is Easy". Gerade das fernöstlich inspirierte, augenzwinkernde "Fat Man" ist seit jeher einer meiner Tull-Favoriten. Die Halbballade "We Used To Know" steigert sich in einen formidablen Rocker, bei dem Martin Barre zeigen kann, dass er ein 'guter Fang' war. Zur Ballade "Reasons For Waiting" hat der spätere Keyboarder David Palmer eine herrliche orchestrale Untermalung arrangiert. Das Thema von "For A Thousand Mothers" ähnelt bereits stark dem Sound, den man später auf Klassikern wie "Songs From The Wood" und "Heavy Horses" hören sollte.
Als Bonus-Tracks gibt es den Klassiker "Living In The Past" (einmal als Mono-Single - einmal in der Originalversion), den "Driving Song", "Sweat Dream" mit einer sehr ansprechenden orchestralen Instrumentierung sowie - endlich in voller Länge - "17". Die 1969er Top Gear Radio Session war bislang nur in Teilen auf der "Aqualung 25th Anniversary"-Edition zu hören und wird nun in voller Länge präsentiert. Die beiden Jingles für das US-Radio sind mit schrägem, britischem Wortwitz gespickt und absolut hörenswert.
Für CD 2 wurde das Konzert vom 4. November 1970 in der Carnegie Hall gegenüber der DVD in seinen Ansagen und Soli gekürzt. Vor allem letzteres ist natürlich unerfreulich, aber ansonsten hätten die Aufnahmen nicht auf eine einzelne CD gepasst. Die Setlist setzt sich im Großen und Ganzen aus "Stand Up" und dem damals aktuellen Album "Benefit" zusammen. Als Sahnestückchen findet sich mit "My God" eine frühe Version eines Songs, der erst ein Jahr später auf "Aqualung" veröffentlicht werden sollte. Mein persönliches Highlight ist das furiose "Dharma For One" vom Debüt-Album, das ein siebenminütiges Drum-Solo von Clive Bunker beinhaltet. Als Zugabe folgen dann "We Used To Know" und "For A Thousand Mothers", das durch ein manchmal etwas langatmiges Gitarrensolo Barres verbunden wird.
Die DVD bringt - wie nun bereits mehrfach ausgeführt - bei hundert Minuten Spielzeit auch sämtliche Ansagen und Soli auf eine eher unerfreuliche Audio-DVD. Gott sei Dank sind hier Andersons Flötensoli in voller Länge zu hören. Auch oder gerade weil (?) auffällt, dass seine Soli zum damaligen Zeitpunkt noch etwas unstrukturiert waren, sind die Songs hier authentischer als auf der CD. Die überlangen Ansagen wirken etwas fahrig-wirr und stören eher, aber Anderson hört sich auch heute noch nur zu gerne reden.
Das Album punktet mit dem originalen Pop-up Cover und ist ansprechend, dreifach auffaltbar gestaltet. Auch das zehnseitige Booklet mit Liner-notes vom Chef persönlich ist okay. Jethro Tull-Fans, auch wenn sie jeden Ton ihrer Lieblinge besitzen sollten, werden diese "Stand Up" Collectors Edition allein wegen der Carnegie Hall-Aufnahmen goutieren. Vielleicht hätte man aber besser einen Gig auswählen sollen, zu dem es Bildmaterial gibt.
Line-up:
Ian Anderson (vocals, guitar, balalaika, mandolin, flute, mouth organ, Hammond B-3 organ)
Martin 'Lancelot' Barre (electric guitar, flute)
Glenn Cornick (bass)
Clive Bunker (drums, percussion)
Additional personnel:
David Palmer (string arrangements - CD 1)
John Evan (organ, piano - CD 2, DVD)
Tracklist |
CD 1:
01:A New Day Yesterday (4:11)
02:Jeffrey Goes To Leicester Square (2:12)
03:Bouree (3:47)
04:Back To The Family (3:35)
05:Look Into The Sun (4:23)
06:Nothing Is Easy (4:26)
07:Fat Man (2:52)
08:We Used To Know (4:03)
09:Reasons For Waiting (4:07)
10:For A Thousand Mothers (4:21)
Bonus Tracks:
11:Living In The Past (3:23)
12:Driving Song (2:44)
13:Sweet Dream (4:04)
14:17 (6:10)
15:Living In The Past (original mono single version) (3:25)
Top Gear BBC Radio session recorded on 16.6.69, broadcast on 22.6.69:
16:Bouree (4:01)
17:A New Day Yesterday (4:16)
18:Nothing Is Easy (5:07)
19:Fat Man (2:56)
20:Stand Up US radio spot # 1(1:03)
21:Stand Up US radio spot # 2 (0:51) |
CD 2:
01:Nothing Is Easy (5:43)
02:My God (12:43)
03:With You Here To Help Me/By Kind Of Permission Of (13:35)
04:A Song For Jeffrey (5:25)
05:To Cry You A Song (6:04)
06:Sossity, You're A Woman/Reasons For Waiting/Sossity, You're A Woman (5:29)
07:Dharma For One (13:37)
08:We Used To Know (3:41)
09:Guitar Solo (8:24)
10:For A Thousand Mothers (4:42) |
DVD:
Entspricht CD 2
Bonus:
Interview mit Ian Anderson, London 2010 |
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Externe Links:
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