"Le ver dans le fruit" - Von außen sieht dieser Apfel perfekt aus. Und doch: Da ist der Wurm drin! Und wenn Nemo mit Metaphern um die Ecke kommen, dann ist klar, dass die Herren aus Le Puy-en-Velay in der Auvergne etwas zu sagen haben. Wie betörend war da beispielsweise die musikalische Anklageschrift des Anti-Kriegs-Werks Barbares von 2009! Mit "Le ver dans le fruit" legt das Quartett - daheim in Frankreich längst ganz weit vorn in Sachen 'rock progressif' - nun den Nachfolger des 2011er-Werks "R€volu$ion" vor und bleibt äußerst gesellschafts- und systemkritisch.
Musikalisch bleibt die Band extravagant. "Stipant Luporum" beginnt a cappella und endet als Kanon. Die auch sehr rhythmusbetonten Vokalkünste erinnern schon beinahe an Van Canto - klasse gemacht! Man zitiert Mittelalterflair in schummriger Lagerfeuerstimmung und setzt das erste Ausrufezeichen:
»Sur cette lande, les loups chassent en bande
Le plus fort fait la loi
Un jour viendra où l'un d'eux te mangera
Si tu ne te méfies pas«
Die Wölfe jagen im Rudel und es gilt das Recht des Stärkeren. Und nein, mit diesen Wölfen sind keine Tiere gemeint. "Le ver dans le fruit" ist ein auf zwei CDs verteiltes Konzeptalbum über Schein und Sein, über systemische Ungerechtigkeiten, über vorgefertigte Rollen in der Gesellschaft, über das Funktionieren der kleinen Rädchen und gleichzeitige Heuchelei am großen Hebel. Politik, Religion und Medien versorgen uns mit dem, was wir brauchen, um mit dem Strom zu schwimmen: mit Ängsten und Abhängigkeiten, mit Kontrolle statt Freiheit und mit Placebos statt Heilmitteln. So sehen das Nemo.
»Tout est beau, même si tout est faux
Tout est bien, même si rien ne se tient
("Triste fable")«
Zum Glück fällt das Urteil von "Le ver dans le fruit" über die Welt komplett anders aus als das musikalische Urteil über "Le ver dans le fruit"! Jener spannende, geheimnisvolle Opener verspricht nicht zu viel. Das Doppelalbum eilt von Höhepunkt zu Höhepunkt. "Trojan" hat Virtuoses - Parallelläufe und jazzig-funky verfrickelte Melodieexzesse samt Tempowechseln erinnern teils gar an Dream Theater. Es hat auch viel Geheimnisvolles - mysteriöse Bass-Parts mit Flüstergesang. Und nicht zuletzt ein starkes Hard Rock-Ohrwurmriff. Was für ein Brett - alles drin, alles dran!
"Milgram, 1960" (klasse Jam-Part!) spielt auf anspruchsvollem technischen Niveau und hohem Energielevel gekonnt mit kleinen Dissonanzen - genial durchgeknallt, hat was von Spock's Beard. Ähnlich dynamisch und quirlig präsentiert sich "A la une" - eine verproggte, teils funkige Mischung aus orgeligem Classic Rock und Verfolgungsjagden der Melodieinstrumente im Stile von Kansas. "Verset XV" gibt das zurückgenommene, atmosphärische Gegenstück. Klar, wir befinden uns textlich gerade in alten Kirchengemäuern. Offenbar verleitet der Schauplatz zu halluzinativen Erlebnissen - anders ist der Mix aus Blues- und Space Rock im gestreckten instrumentalen Mittelpart kaum zu erklären. Jesses, geht diese Band mit einem Gassi - Respekt!
Besonders schnell ins Hirn gräbt sich "Un pied dans la tombe". Es startet nachdenklich-balladenhaft und steigert sich so richtig in was rein. Ein schier unendlich durch die Takte groovendes Riff aus Gitarre und tieftönigem Piano wirkt mysteriös, bedrohlich, packend. Neo Prog in Heavy-Version, erinnert ein wenig an Arena ... aber gleich mehrere Faktoren machen Nemo immer wieder rasch zu Nemo. Das ist beispielsweise das Keyboard, das nicht nur melodisch, sondern auch rhythmisch gehörig Arbeit leistet. Und natürlich der unverwechselbare Gesang Jean Pierre Louvetons.
Ebenso attraktiv, aber auf komplett andere Weise machen sich "Neuro Market" und "Triste Fable" unentbehrlich. Die Teile sind wahre Psycho-Trips und die Band spielt den Ewartungen des Hörers einen Streich nach dem anderen. Als fester Anker in der surrealen See der zauberhaften Merkwürdigkeiten dienen ganz simple, beschwipst-schräge und irgendwie witzige Hooklines, die beinahe von den Stolen Babies stammen könnten. Hier noch ein handwerkliches Highlight des Doppelalbums: "Allah Deus" pendelt schon fast augenzwinkernd zwischen urigen Yes- und Genesis-Anleihen und jetztzeitigen Solo-Frickeleien von großer technischer Raffinesse. Und hier noch ein melodisches Highlight: "Opium": Gänsehaut!
Am meisten Zeit zum erforscht Werden verlangen sich die Longtracks. Hier spielen Nemo ihre große Stärke aus, einen griffigen Gesangs-Rahmen mit minutenlanger instrumentalthematischer Evolution auszufüllen. Bei "Le fruit de la peur" (neuneinhalb Minuten) beeindruckt die Band vor allem auch durch die Tempo-Variation am Schluss. Und "Arma Diania" (17 Minuten) mit all seinen aufregenden Spielereien, die stilistisch bis ins Folk-Rockige reichen, sollten sich die Jungs von Dream Theater vielleicht als Beispiel nehmen. Im Gegensatz zum Rausschmeißer ihres neuen Albums, "Illumination Theory", gibt es hier keine einzige Minute zum zwischendurch aufs Klo gehen.
Kaum zu fassen, aber gleiches gilt für das gesamte Doppelalbum - "Le ver dans le fruit" steckt tatsächlich dermaßen voller musikalischer Kreativitäten, dass sie auf einer einzelnen CD keinen Platz gefunden hätten. Und hinzu kommen schließlich noch die gedankenreichen Texte. Die bleiben gerne eher inkonkret, 'zum selber Ausmalen'; aber sie zitieren auch schon mal ganz konkret Marxens 'Opium des Volkes' ("Opium") oder auch das Milgram-Experiment, bei dem es um das blinde Befolgen stupider Befehle geht ("Milgram, 1960"). Dieses Prachtwerk verleitet zum Nachdenken. Es ist ein großer Aufruf dazu, die unsichtbaren Marionettenfäden zu zerschneiden und das Gewissen einzuschalten.
»Jésus, Allah ou Superman
Nous donnent raison d'exister
Tous les héros mégalomanes
Nous sauvent de la réalité
("Opium")«
Line-up:
Jean Pierre Louveton (vocals, guitars)
Guillaume Fontaine (keyboards, gaita, vocals)
Lionel B. Guichard (bass)
Jean Baptiste Itier (drums)
Tracklist |
CD 1:
01:Stipant Luporum (2:00)
02:Trojan [Le ver dans le fruit] (8.50)
03:Milgram, 1960 (5:56)
04:Verset XV (7:55)
05:Un pied dans la tombe (7:09)
06:Neuro Market (6:36)
07:Le fruit de la peur (9:34)
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CD 2:
01:A la une (4:59)
02:Triste fable (7:43)
03:Allah Deus (5:05)
04:Opium (9:04)
05:Arma Diania (17:19)
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