Symphonisch - bombastisch - synthetisch? Nightwish stecken live naturgemäß in einer Zwickmühle. Ganz klar: Wenn man im Studio eine bis ins letzte Detail ausgefeilte Metal-Orchester-Symbiose eintütet, kriegt man auf der Bühne ein Problem. Es sei denn, man bringt die 'Tüte' mit. Man möge mich nicht falsch verstehen: "Dark Passion Play" ist ein episches Meisterwerk. Und auch ein authentisches; denn Tuomas Holopainen hatte seine Orchester-Klänge schließlich nicht im Computer programmiert, sondern in Scharen alles zusammengetrommelt, was bläst, zupft und streicht.
Nur all zu schade, dass bei diesem Live-Mitschnitt - zwangsweise - viel aus der Konserve kommt. "Made In Hong Kong..." ist eine Zusammenstellung von verschiedenen Auftritten der riesigen Welt-Tournee von 2007 bis 2008 (die dann auch 2009 noch weiterging) in der Schweiz, in Deutschland, Finnland, Österreich, Großbritannien und, wie der Titel schon sagt, in China. Ausgewählt wurden ausschließlich Stücke des Albums Dark Passion Play. Und das Haupt-Ohrenmerk liegt natürlich auf der (inzwischen schon nicht mehr so ganz) neuen Sängerin Anette Olzon.
Als Nachfolgerin einer von ihren Kritikern gern ins Unerreichbare hochstilisierten Kultfigur hat sie bei den Fans nicht immer einen leichten Stand. Und live - wie soll sie sich da in dem ganzen Nightwish-Bombast Gehör verschaffen? Mal klappt es - mal nicht. Immer wieder ist der Sound geprägt von breitwandigem Orchester aus der Ton-Konserve mitsamt den "Carmina Burana"-beeinflussten scharfen Chor-Akzenten. Das klingt freilich 1:1 nach der Studioversion - die ist es ja auch. Besonders konservig wird es beim 14-Minuten-Epos "The Poet And The Pendulum": Da laufen sogar Anettes Sprech-Parts vom Band, oh Mann...
Und die 'echte' Anette - im Chorus geht die aus rein biologischen Gründen einspurig fungierende Sängerin im vielspurigen Playback unter. Jaja, natürlich spielen Nightwish auch live. Sogar richtig druckvoll im präzisen Zusammenspiel von Drums, Bass und rohen, aggressiven Gitarren. So mancher Speed-Teil zeugt von technischer Klasse, ohne Frage. Doch hat die Stimme Anette Olzons es naturgemäß schwerer, den Gesamtsound mitzuprägen - auch schwerer als ihre rein stimmlich druckvollere Vorgängerin Tarja Turunen.
Anette Olzon singt aber nicht 'schwächer' - sie hat halt nur eine ganz andere Stimme und eine andere Stimmlage. Und sie hat durchaus einige starke Momente in den 'lichten' Momenten des Drumherum. Die Strophe des zauberhaften "Amaranth": ganz toll - auch die leichten Variationen, die sie mit einbringt. Oder die Strophen von "Bye Bye Beautiful" und "Sahara" - kraftvoll und präsent. Und obwohl beim Chorus meist die Orchester-Und-Chor-Walze anrollt, gibt Anette manchmal live die gewagte, hohe Gesangsspur, wie bei "Amaranth". Auch die Gesangs-Duette mit Bassist Marco Hietala klingen prächtig, zum Beispiel ebenfalls bei "Sahara", oder auch bei "7 Days To The Wolves".
Ein paar unsaubere Töne sind dabei - und man ist regelrecht erleichtert ob dieser sehr menschlichen Authentizität. Denn all zu viel wird aalglatt vom Band beigemischt. Bei Marco Hietalas raubeinigen Gesangs-Parts jenseits von Gut und Böse, vor allem denen in "Bye Bye Beautiful", drücken wir mal ein oder zwei Ohren zu. Unterm Strich klingt "Made In Hong Kong" 'zu sauber', trotz einiger zugegebenermaßen akustisch guter Live-Eindrücke. Ein Mix aus guter Live-Band und einer immensen Orchester-Kulisse vom Band. Letzteres nervt mich auf Dauer. Doch jeder muss für sich entscheiden, ob er dieses Live-Album braucht, wenn er "Dark Passion Play" schon hat. Ein paar ältere Songs mit neuer Stimme hätten die Platte weniger entbehrlich gemacht.
Die Bonus-Tracks sind durchaus ordentlich: Neben der Demoversion von "Cadence Of Her Last Breath" sind dies noch die bislang unveröffentlichten Songs "Escapist" - lyrische Power-Melodien im Stile von "Amaranth" - und "While Your Lips Are Still Red": eine Schmachtnummer mit Klavier- und Geigenbegleitung und Marco Hietalas Lead-Gesang.
Die DVD macht die "Dark Passion Play"-Nachlese komplett. Die drei Musikvideos sind verhältnismäßig aufwendig gestaltet mit Schauspielern und ansprechenden Computer-Grafiken. Da steht ein Label mit Zaster dahinter, das sieht man. Wechselhaft, doch nicht uninteressant ist die 37-minütige Doku von der immensen Welt-Tour durch mehr als 40 Länder - ebenfalls professionell anmutend.
Wir bekommen Impressionen vom allerersten Gig mit Anette Olzon in Tel Aviv, eine ungefähre Vorstellung von der Verrücktheit südamerikanischer Fans und außerdem noch Backstage-Aussagen über gute und schlechte Seiten des Prominenten-Lebens. Jedoch auch tiefe Einblicke in die Trinkgewohnheiten der Musiker, vor allem von Marco Hietala. Bis zu einem gewissen Punkt kann das recht witzig sein. Wenn aber der trinkfeste, jedoch schon sturzbesoffene Finne als Verlierer beim Kartenspiel 'leider' den x-ten Jägermeister trinken 'muss', stellt man sich die Frage, in wie fern man das noch derart glorifizieren muss.
Auch kräftig daneben: Emppu Vuorinen, der bei einer Autogramm-Session spontan mit einem Kuli zwischen Oberlippe und Nase und mit ausgestrecktem Arm den 'Führer' mimt. Die anderen lächeln da verlegen - mir vergeht bei so was allmählich das Grinsen. Wo sind die gründlichen Video-Zensurmeister, wenn man sie mal braucht? War bestimmt nur ein 'Spaß', gehört sich aber rausgeschnitten.
Positiv ist die Offenheit der Band im Umgang mit dem viel diskutierten Zwischenfall bei der Südamerika-Tour, als Anette Olzon heulend von der Bühne lief. Das Ganze wird nicht totgeschwiegen. Im Gegenteil, Tuomas und Anette sprechen drüber, ja sogar Bilder davon sind zu sehen. Sie bleibt zwar bei ihrer Version der nervigen Nebelmaschine - doch spricht sie auch über die Mittelfinger, die ihr von infantilen Tarja-Fans entgegengestreckt wurden. Man kann leicht eins und eins zusammenzählen...
Nach dieser Tour-Doku bekommen für mich die Lyrics, die Anette Olzon im Bonus-Song "Escapist" singt, eine fast prophetisch-autobiografische Dimension:
»The nightingale in a golden cage, that's me locked inside reality's maze...«.
Line-up:
Anette Olzon (vocals)
Emppu Vuorinen (guitar)
Marco Hietala (bass, vocals)
Jukka 'Julius' Nevalainen (drums)
Tuomas Holopainen (keyboards)
Tracklist |
CD:
01:Bye Bye Beautiful
02:Whoever Brings The Night
03:Amaranth
04:The Poet And The Pendulum
05:Sahara
06:The Islander
07:Last Of The Wilds
08:7 Days To The Wolves
09:Escapist
10:While Your Lips Are Still Red
11:Cadence Of Her Last Bearth (demo version)
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DVD:
Back In The Day... Is Now (Tour Documentary)
Amaranth (Promo Video)
Bye Bye Beautiful (Promo Video)
The Islander (Promo Video)
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Externe Links:
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