RockTimes: Hi, Jay! Besten Dank, dass Du Dir zwischen den Terminen Deiner Deutschlandtour die Zeit nimmst, unsere Fragen zu beantworten. Ihr seid gerade auf dem Weg von Berlin nach Bamberg - wie laufen die Shows und wie kommen die neuen Songs von Carry On an?
Jay: Wir freuen uns sehr! Die Band war im April in Boston und wir haben die neuen Lieder sehr intensiv geprobt. Die kommen wirklich sehr gut an. Es ist interessant, weil man nie vorher weiß, welche Stücke live gut rüberkommen. Gut, "Carry On" oder "Ringing In My Head" spielen wir seit langem und wussten, dass die gut ankommen. Doch Lieder wie "Dirty Moon On The Rising" ist jetzt eines unserer besten Live-Stücke - hätte ich nicht gedacht. Irgendwie 'rollt' es sehr gut und kommt gut beim Publikum an. Wir hatten gerade in Berlin drei Konzerte, u. a. in 'Speiches Rock & Blues Kneipe' - bereits zu DDR-Zeiten eine Szene-Institution und jetzt auch im neuen Berlin. Es war sehr, sehr warm, aber es herrschte ganz tolle Stimmung. Gestern Abend dann zunächst ein privates Hauskonzert und danach waren wir im Dodo in Kreuzberg. Die Leute waren begeistert - wir waren begeistert, ein solches Publikum zu haben. Gleich fahren wir nach Bamberg und dann nach Prag - es läuft wirklich sehr, sehr gut!
RockTimes: Wie lange spielst Du denn schon mit Deiner deutschen Band zusammen? Wie habt Ihr Euch kennengelernt und vor allem: was verbindet Euch?
Jay: Ich lebte von 1999 bis 2002 in Köln. Damals habe ich im TV- und Filmbereich gearbeitet, war aber bereits Hobbymusiker und habe viel in der Kölner Bluesszene gespielt. Die Kontakte, die seinerzeit geknüpft wurden, sind die Basis der Band. Die meisten von ihnen kommen direkt aus Köln: Christina Christ, unsere Saxofonistin, Frank Tetzner, den Bassisten, Heinz Bernd Hövelmann, unser Gitarrenspieler, und unseren Drummer Tom Gerke kenne ich alle aus dieser Bluesszene. Unser Keyboarder, Chris Town, kommt aus Flensburg. Den kenne ich privat - seine Freundin war eine Zeitlang unser Aupair-Mädchen in Boston. Gemeinsam ist unser Interesse an 'Americana', an The Band, Bob Dylan oder der Allman Brothers Band - das sind unsere Wurzeln, von denen wir immer Stücke im Live-Programm spielen. Meine Singer/Songwriter-Lieder gehen auch in diese Richtung. Und all diese Stilrichtungen - also Singer/Songwriter, Americana, Blues - finden auch meine Musiker gut und das ist es, was uns eigentlich verbindet.
RockTimes: Ich kenne bislang nur "Carry On" sowie einige Stücke aus Coming Home To You und war doch ziemlich erstaunt, in älteren Presseberichten zu lesen, dass Du Dich eigentlich dem Blues Rock verpflichtet fühlst. Auf "Carry On" hört man aber Bluegrass, Country, Westcoast und Folk - wenn überhaupt, dann nur sehr unterschwellig den Blues. Hast Du Dich also mittlerweile musikalisch umorientiert?
Jay: Ich würde sagen, dass ich überhaupt nicht 'orientiert' bin [lacht]. Ich bin Liedermacher, also Singer/Songwriter - ich versuche nicht, irgendwie in ein Genre reinzupassen - was auf mich einströmt, versuchte ich zuzulassen. Die meisten Songs sind zwar auf Blues oder Country Blues ausgerichtet, ich versuche aber nicht, in eine bestimmte Richtung zu gehen, sondern so vielfältig wie möglich zu sein. In unserem Live-Programm spielen wir querbeet durch alle Stile, also jazzige Stücke, Blues- und Singer/Songwriter-Sachen - das kommt gut an. Ganz persönlich, wenn ich auf Konzerte gehe, fehlt mir manchmal etwas die Vielfalt. Ich finde, das macht unsere Konzerte interessanter - damit es nicht immer das gleiche Schema ist. Das hält das Publikum und uns frisch...
RockTimes: Warum hast Du das Album "Carry On" betitelt? Die Idee zu dem Song kam Dir ja bei einem Auftritt in der Haftanstalt Köln-Ossendorf. Was ist also die Botschaft, die Message von "Carry On"?
Jay: Da ist sicherlich eine biblische Hinwendung - diese berühmten vierzig Tage in der Wüste... Ich habe mir vorgestellt, wie es sich anfühlt, dort ein Gefangener zu sein. Was mir wohl am Meisten fehlen würde, der Kontakt mit Menschen, Liebe, das Ich-sein-können... Als ich wusste, dass wir dort spielen werden, habe ich das Lied geschrieben. Dort haben wir es erst zum dritten Mal gespielt und das war ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde. Dieser persönliche, mitmenschliche Kontakt - dieses Gefühl, allein zu sein - die Schuldfrage... Was man dort wirklich braucht, ist Liebe und menschliche Zuwendung - das ist die Botschaft von "Carry On".
RockTimes: Wie kam es eigentlich zu diesem Gig? Ging die Initiative von Dir aus?
Jay: Wir haben einen Freund, den Rocker Reiner aus Köln, der die Veranstaltungsreihe 'Rock im Knast' organisiert, in Köln-Ossendorf und anderen Haftanstalten in NRW. Der hat uns gefragt und natürlich haben wir 'Ja' gesagt. Interessant war, dass am Abend zuvor im Fernsehen der Johnny Cash-Film über seinen Auftritt im Folsom Prison lief - ein interessantes Timing.
RockTimes: Genau das wollte ich Dich gerade fragen, wie das mit einem Live-Album wäre - analog zu Cashs "At Folsom Prison" [1968] in einem Knast aufgenommen...
Jay: Eine gute Idee wäre das schon, auch wenn ich nicht weiß, ob das zu realisieren wäre. Doch, ich könnte mir das gut vorstellen - vielleicht kommt das ja noch...
RockTimes: Ich finde, dass die Abfolge der Songs von "Carry On" nahezu perfekt ist. Die Spannung ist immer auf Zug - keine Langeweile kommt auf. Hast Du die Songs in dieser Reihenfolge unter musikalischen oder eher thematischen (textlichen) Gesichtspunkten zusammengestellt?
Jay: Das ist eine Kunst für sich. Es gibt ja Leute, die aus diesem Grund nur Singles rausbringen. Ich verwende viel, viel Zeit darauf, die Reihenfolge der Lieder festzulegen - sowohl aus thematischer wie tempo- oder tonartmäßiger Sicht. Drei langsame oder drei schnelle Stücke hintereinander wäre wohl nicht immer so super. Aber gerade auch der thematische Aspekt ist mir wichtig. Ich wusste genau, was zuerst kommen muss - ich wusste, was das letzte Lied sein sollte... Ich hatte diesbezüglich ein sechsmonatiges Praktikum bei einer Plattenfirma in Nashville gemacht und dort haben wir sehr intensiv darüber gesprochen, wie man so etwas aufbaut. Ich habe also ziemlich genau durchdacht, wie "Carry On" gestaltet sein soll.
RockTimes: Genau das hört man auch! Auffällig ist auch die erstklassige Produktion. Habt Ihr sehr viel Zeit dafür im Studio verbracht und wer hat die Aufnahmen geleitet und betreut?
Jay: Ich habe zuhause in Boston ein Heimstudio, wo ich den Gesang zur akustischen Gitarre aufnehme. In meiner Zeit in Nashville habe ich einen großartigen Produzenten namens Cliff Goldmacher kennengelernt, der auch all diese tollen Musiker kennt. Dem schicke ich diese Parts mit einigen Anweisungen. Die spielen das ein und ich kontrolliere den Prozess via Internet. Viele Änderungen braucht es da nicht, diese Musiker sind alle derart begabt... Wir kennen uns seit langem, die kennen meine Stilrichtungen und wissen ziemlich genau, was ich mir vorstelle. Diese Aufnahmen schicke ich dann zu Florian Bechte, einem sehr begabten Produzenten in Köln. Wenn ich dann wieder in Deutschland bin, nehmen wir den Gesang neu auf, worauf ich großen Wert lege. Wir nehmen uns da wirklich viel Zeit. Florian ist obendrein ein toller Vocal Coach. Dann werden die Aufnahmen von ihm gemischt und kommen dann letztendlich zum Mastering nach Düsseldorf, zur Skyline Tonfabrik. Die gesamte Produktion ist also sehr 'international', beinhaltet viele Arbeitsschritte und dauert demzufolge entsprechend, aber über die Jahre hat sich diese Abfolge für mich als optimal herauskristallisiert.
RockTimes: Gibt es einen Song auf "Carry On" der Dir besonders am Herzen liegt, der Dir viel bedeutet?
Jay: Ich würde sagen "Blessings in Disguise". Ich habe eine neunjährige Tochter, die eine seltene Augenkrankheit hat, die sich Morbus Stargardt nennt. Sie ist noch nicht blind, aber kämpft damit. Nach einem Besuch beim Augenarzt habe ich dieses Lied geschrieben. Sie war gestern bei unserem 'Hauskonzert' in der ersten Reihe - es kann sehr viel bewirken, so ein Lied zu singen...
RockTimes: Das kann Kraft und Hoffnung vermitteln...
Jay: Genau, so ist es...
RockTimes: "Even Moses Is Cryin'", das Du den Opfern des Anschlags auf den Boston Marathon gewidmet hast, ist auch so eine persönliche Nummer. Dieser Anschlag hat ja die amerikanische Gesellschaft tief getroffen - Dich auch?
Jay: Ja, sehr! Ich kam gerade von einer Tour aus Deutschland an und wir saßen im Taxi, als es stattfand. Deshalb kamen wir an diesem Tag erstmal nicht nach Hause und mussten ziemlich weit laufen, weil kein Auto mehr durchkam. Und dann folgte dieser merkwürdige nächste Tag, an dem wir zuhause bleiben mussten, weil die Polizei diese Typen jagte. Das alles war richtig schlimm und hat mich tief betroffen gemacht - da musste ich einfach darüber schreiben...
RockTimes: Kann man denn heute noch diese Betroffenheit in Boston spüren oder hat die Zeit mittlerweile die Wunden geheilt?
Jay: Ich glaube, erst als heuer im April der Marathon erneut stattgefunden hatte und alles ohne Zwischenfälle ablief, ist das Trauma ein Stück überwunden worden. Dieser Marathon ist stets ein unglaublich glücklicher Tag für Boston gewesen, überall fanden Straßenfeste statt - das ausgerechnet an DIESEM Tag ein solcher Anschlag verübt wurde, hat viele Leute tief getroffen - nicht nur die Angehörigen der Getöteten und die Verletzten. Jetzt, nach dem ersten Lauf danach, sind wir ein Stückchen weitergekommen, ist da etwas Heilung für die Wunde.
RockTimes: "Old World Wine" verrät ja durchaus 'guten Geschmack'... Ist der europäische Wein für den Singer/Songwriter Jay Ottaway eine Quelle der Inspiration?
Jay: Ja, meine Schwäche für Rotwein muss ich zugeben. Ich neige persönlich zu Châteauneuf-du-Pape, aber auch zu einem guten Chianti kann ich nicht nein sagen [lacht]. Zu dem Lied kann ich noch sagen, dass ich es mit Julian Müller, einem Solinger Singer/Songwriter und Frontmann der Blackberries, und dem irischen Texter Michael Cummins geschrieben habe. Die Textidee war eigentlich von den beiden, aber ich bin natürlich ein großer Rotwein-Liebhaber.
RockTimes: "Old Messiah" ist ebenfalls eine ganz spannende Geschichte. Ich las, dass Du hier von Wilhelm Müllers "Lindenbaum" inspiriert wurdest. Was verbindet Dich als Nordamerikaner mit einem deutschen Dichter der Romantik?
Jay: Interessante Geschichte - den Schubert'schen Liederzyklus [Anmerk.: der auf Müllers "Winterreise" basiert] habe ich im Rahmen einer Kulturveranstaltung des Bostoner Goethe Instituts, bei der ich mit meiner Frau war, gehört - von einem wirklich sehr guten Pianisten vorgetragen. Ich war begeistert! Aus reinem Spaß habe ich die Texte nach und nach - auch den "Lindenbaum" - ins Englische übertragen. Allerdings nicht 1:1, sondern sehr gefühlvoll in die alltägliche Sprache von heute. Dann habe ich die Musik dazu geschrieben. Von Schubert habe ich da, außer der Tonart, nicht viel übernommen - das ist eher der Stil, den ich schreibe. In diesem Winter habe ich jetzt die gesamten 24 Stücke dieser Liederreihe durch und ich hoffe, dass ich eine "Winterreise"-CD rausbringen kann - es war heuer ein langer Winter in Boston und das hat mir sehr geholfen [lacht].
RockTimes: Überhaupt sprichst Du ja nahezu perfekt Deutsch? Wie kam es dazu?
Jay: Zunächst kam das natürlich mal über den Fußball. Als Vierzehnjähriger nahm ich an einem Schulaustausch in den Osterferien nach Bonn teil. Diese zwei Wochen haben mich derart beeindruckt, dass ich mich entschlossen habe, am College Deutsch zu lernen und dann ein Austauschjahr an einer deutschen Uni zu machen, ebenfalls in Bonn. Der Kontakt zu meinen Fußballfreunden in Bonn besteht immer noch, ich habe auch das WM-Endspiel mit denen zusammen angeschaut. Während dieses Jahres habe ich auch meine Frau kennengelernt und wir haben dann von 1999 bis 2002 in Köln gelebt. Zuhause in Boston spricht meine Frau nur deutsch mit den Kindern, die auf eine deutsche Schule gehen, und so werden meine Sprachkenntnisse immer etwas aufgefrischt.
RockTimes: Nach meinem Empfinden trennen die USA und Deutschland mehr als nur 4000 km Atlantik. Ich erlebe ein tiefes Unverständnis von beiden Seiten füreinander. Wie geht es Dir, wo Du doch in beiden Welten zuhause bist?
Jay: Stimmt, das ist manchmal schwierig, aber man muss immer versuchen, eine Art Botschafter zu sein. Wenn ich hier in Deutschland bin, versuche ich immer, die guten Seiten der USA rüberzubringen - wenn ich in den USA bin, versuche ich aufzuklären und eine Brücke zu sein. Es gibt viele Gemeinsamkeiten, vor allem bei der Musik, aber auch kulturell und geschichtlich. Es ist eine interessante Beziehung zwischen beiden Ländern. Es wird immer Spannungen geben - ich beschäftige mich schon ziemlich lange damit, habe auch in Bonn Politikwissenschaften studiert und ein Praktikum im Bundestag gemacht. Habe hier viel erlebt - vor allem den Mauerfall in Berlin, zusammen mit meiner Frau und ihrer Familie, die aus Berlin stammt... Es ist eine komplizierte Geschichte, aber ich versuche immer, eine Brücke zu sein.
RockTimes: Was unterscheidet die deutsche Musikszene von der US-amerikanischen? Was macht den Unterschied zwischen einer Show, sagen wir mal in Berlin und einem 'Heimspiel' in Boston aus?
Jay: Die Unterschiede liegen wohl eher in den Regionen, von Stadt zu Stadt. Ich kenne Köln, Berlin und Hamburg - da gibt es sehr deutliche Unterschiede. Ich wohne in Boston, einer Singer/Songwriter-Hochburg, da spiele ich natürlich stärker diese Stilrichtung - wenn ich in New York bin, dagegen eher Blues oder Rock. In den USA gibt es also ebenfalls große Unterschiede. Bei den Leuten, die gerne Americana, Bluegrass, Blues und Rock hören, kommt unsere Musik gut an - die, die nur Mainstream-Radio hören, verstehen uns oft nicht ganz. Es kommt wohl in Deutschland wie den USA eher auf die jeweiligen Locations an: Ist es ein Singer/Songwriter-Laden oder ein Blues-Schuppen... Im MusikStar in Norderstedt kommt beispielsweise Singer/Songwriter-Musik gut an - in Berlin hört man dagegen lieber Blues. Gestern Abend war eine Frau mit ihrem Freund bei unserem Gig. Sie war ein ganz großer Blues- und Americana-Fan - ihr Freund mochte mehr elektronische Musik. Er sagte danach, es sei zwar nicht seine Musikrichtung, aber uns live zu hören, sei super gewesen [lacht].
RockTimes: Deine Texte zeichnen sich durch Nachdenklichkeit aus - Du bist von Bob Dylan und John Cage inspiriert. Würdest Du Dich als einen politischen Musiker, als politischen Menschen bezeichnen?
Jay: Ja, wie gesagt - ich habe Politik studiert. Das Studierte spiegelt sich natürlich in den Texten wider, aber ich bin kein 'angry young man'. Man hört das ja auch bei Dylan - in den späten Jahren geht es bei ihm auch eher um Zwischenmenschliches und Liebe. Meine Texte sind eher querbeet, auf keinen Fall auf Politisches reduziert.
RockTimes: Wie sehen Deine Planungen für die nähere Zukunft aus?
Jay: Wir arbeiten im Moment an einem Live-Album. Das ist einfach eine tolle Live-Band und wir haben bislang noch keine Live-CD gemacht. Sechs, sieben Konzerte haben wir bereits auf dieser Tour aufgenommen - das werden wir auch in Prag machen. Die übernächste CD wird hoffentlich dieser "Winterreise"-Liederyklus, diese 24 Stücke von Wilhelm Müller. Ja, und dann natürlich weiterhin touren, hoffentlich auch größere Gigs - das ist die vorläufige Planung.
RockTimes: Hast Du zum Abschluss noch irgendeine Message an unsere Leser und Deine Fans in Deutschland und deutschsprachigen Raum?
Jay: Rausgehen, Livemusik hören, es gibt viele tolle Läden in Deutschland, es gibt so viel gute Musik, in jeder Stadt - in einer Zeit, in der die Leute manchmal lieber zuhause bleiben und Junk gucken. Das wirkliche Leben ist draußen!! In den Kneipen, in den Locations...
RockTimes: So sieht's aus... Vielen Dank für dieses Interview, bester Jay. Ich habe viel daraus gelernt... und freue mich schon auf das Live-Album! Viel Erfolg in Bamberg, in Prag und dem Rest der Tour - natürlich auch für "Carry On", auf dass es sich hervorragend verkaufen wird!!
Jay: Ebenfalls vielen Dank, Steve.
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