Retrospective ... so programmatisch, wie der Bandname klingt, sind die sechs Musiker gar nicht. Auf ihrem zweiten Album (das 2007er EP-Debüt "Spectrum Of The Green Morning" also nicht mitgerechnet) macht die Band aus Polen keine Musik 'von gestern', sondern präsentiert sich durchaus modern. Es tauchen zum Beispiel Computersamples auf. Und es werden bisweilen ganz schön beachtliche Gitarrenwände aufgebaut - auch der Einsatz gehöriger Heaviness unter heutigen Produktionsbedingungen zeichnet Retrospective von vielen reinen Retro-Bands ab.
Die Art und Weise, wie die Band diese Härte auf- und wieder abbaut ist sehr überzeugend. Einige der Stücke zeichnen sich zunächst einmal durch eine Art konstanten Puls aus - einen proggigen Drive, der sich, wie im Opener "The End Of The Winter Lethargy", in weiten Bögen zwischen einer puren Bassline und einem aggressiven Riffing hin- und herentwickeln kann. Dieser Puls vereinnahmt auch ruhige Passagen, wie die Strophe ganz zu Beginn, in ein großes Spannungsfeld des Gesamtsongs.
Das bedeutet, es gibt wenig Breaks, wenig scharf geschnittene Kanten in der Songarchitektur. Die Stücke entwickeln sich viel mehr, wirken organisch, und besagte 'moderne' Ausrichtung geht keinesfalls zu Lasten eines authentischen Feelings. Im Gegenteil. Wenn man die Augen schließt, kann man sich sehr gut vorstellen, dass die Band gerade vor einem auf der Bühne steht und spielt. Einzig der komplexe Schlusstrack "Swallow The Green Tones" bricht etwas mit dem Muster. Hier gibt es ein paar spannende Tempowechsel.
Viel ihrer emotionalen Fesselwirkung verdanken Retrospective ihrem Sänger Kuba Roszak. Seine Stimme geht unter die Haut. So viele Facetten scheint diese gar nicht zu haben; aber die Klangfarbe ist ungeheuer interessant. Die Stimme wirkt raumgreifend. Wenn Roszak singt, dann klingt sofort ein großes Spektrum mit. Die Vocals gehen extrem gut einher mit den stets angespannten, meistens düster-ernsten Atmosphären. Bei dieser Stimme ist auch immer ein wenig Schauspiel dabei - in entsprechend heavy unterlegten Passagen wird der Gesang glühend wütend.
Und Retrospective haben noch ein Ass im Ärmel: Beata Łagoda. Hauptamtlich ist sie Keyboarderin, aber eben auch Background-Sängerin. Wenn sie im Hintergrund, aber doch deutlich vernehmbar, Roszaks Gesanglinien parallel begleitet, entsteht sofort Magie. Ab und an tritt sie auch punktuell in den Vordergrund, zum Beispiel bei "Lunch" und "Swallow The Green Tones", doch nirgendwo so stark wie in "Ocean Of A Little Thoughts", einem echten Duett. Der Song ist 'nur' eine Powerballade, aber eine hinreißend schöne!
Retrospective dürfen Beata künftig ruhig noch mehr Gesangsaufgaben übertragen! Aber auch so hat "Lost In Perception" schon zahlreiche Höhepunkte und Hinhörer: Das aufgewühlte "Tomorrow Will Change" mit tiefschwarzen Tool-Anleihen, das melancholische und gleichwohl heilsame, Spieluhr-hafte Thema von "Egoist" oder auch der sehr dynamische und gleichzeitig introvertierte Drive von "Musical Land". Das klingt sehr interessant! Und ist da nicht ein Funken Fusion in "Lunch"? Und ein Hauch Latin in "The End Of The Winter Lethargy"? Vermutlich ist das gar keine Absicht; und der Eindruck mag ein subjektiver sein.
Es gibt wenig zu mäkeln. Einzig die Lyrics können nicht so recht überzeugen. Es klingt meist sehr poetisch - gefällig werden da innere Seelenkämpfe, Schmerz und Hoffnung betextet. Kryptische und unkonkrete Botschaften sind ja nicht per se schlecht. Aber auch bei genauerer Analyse dreht sich all zu viel um das im Prog-Bereich immer wieder gern besungene 'Alles und Nichts'. Hier hat die Band noch Potenzial. Das ändert aber nichts daran, dass Retrospective ein heißer Tipp für Liebhaber von Bands wie Galahad, Riverside, IQ, Pendragon oder Porcupine Tree sind.
Auch Fates Warning-Jünger und Redemption-Fans sollten mal reinhören - man fischt hier auch im Metal-Meer. Das Album "Lost In Perception" ist für besagte Prog-Interessierte aber weit mehr als nur eine Ergänzung ihrer Sammlung, sondern kann eine echte Neuentdeckung sein. Retrospective schauen eben bei Weitem nicht nur zurück ... mit einer netten Ausnahme: Die ersten beiden Minuten der Schlussnummer darf man wohl als sympathische Verneigung vor Vorbildern verstehen. Das schimmert wie Diamanten ...
Line-up:
Beata Łagoda (keyboards, backing vocals)
Jakub Roszak (vocals)
Maciej Klimek (guitars)
Łukasz Marszałek (bass guitars)
Robert Kusik (drums)
Alan Szczepaniak (guitars)
Tracklist |
01:The End Of The Winter Lethargy (5:30)
02:Huge Black Hole (3:58)
03:Egoist (5:32)
04:Lunch (6:34)
05:Our Story Is Beginning Now (3:58)
06:Tomorrow Will Change (6:19)
07:Musical Land (4:23)
08:Ocean Of A Little Thoughts (3:45)
09:Swallow The Green Tones (10:34)
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