»Kommen Sie näher, kommen Sie heran zu unserem Zirkus! Er ist nicht der schönste oder größte, den es gibt - aber die Atmosphäre ist etwas ganz Besonderes: wie ein Spiegel, in dem die Welt widerscheint!« Mit diesen Worten wird in "The Invitation" der Ausgangspunkt für die Rockoper "Victor" kurz umrissen - und schon ist klar: Es handelt sich um eine höchst symbolträchtige Allegorie. Hinter den Klängen und zwischen den Zeilen versteckt sich mehr als die bloße Story - und diese ist auch schnell erzählt: Victor, der Sohn des alten Zirkusclowns, soll in dessen Fußstapfen treten. Der Junge fühlt sich in dieser offenbaren Vorbestimmung seines Schicksals eingeengt und bricht aus dieser, seiner Welt aus. Er sucht die Wahrheit in der Fremde, in indianischen Heilslehren und im Drogenrausch. Schließlich entdeckt er, dass der Weg zu sich selbst in seiner Person, im eigenen Wesen, steckt.
Eine typische Selbstfindungsgeschichte, ein Zeitgeistprodukt der frühen siebziger Jahre und eine echte Rockoper. Wir erinnern uns: Die genialen musikalischen Mods von The Who hatten mit Tommy ein neues Genre der Popkultur geschaffen. Kompakte, knackige Songs erzählen eine Geschichte. Gemäß der Aufbruchsstimmung der Swingin' Sixties hat man natürlich höhere Ambitionen, als nur eine zuckersüß-romantische Musicalstory auf die Bühne zu bringen und daher nennt man das Werk eben auch Oper. Schließlich wollte man eine Message transportieren und sich der 'großen' Kunst annähern.
Das Werk von The Who löste eine wahre Welle von Nachfolgeprojekten und Konzeptalben aus - "Jesus Christ Superstar" von Andrew Lloyd-Webber und "Quadrophenia", ebenfalls von "The Who" sind sicher die populärsten Nachfolger von "Tommy" - doch auch außerhalb von Großbritannien beschäftigten sich Musiker mit dieser neuen Kunstform und sogar die Plattenindustrie schien großes Vertrauen in das opulente Format gigantomanischer Songzyklen zu haben - ansonsten würde es schon verwundern, dass zwei österreichische Studiomusiker und Arrangeure (u. a. in den Diensten von André Heller) für ihr ambitioniertes Projekt Aufnahmen in den Abbey Road Studios und mit dem Royal Philharmonic Orchestra machen konnten.
Das aufwändig gestaltete Doppelalbum erschien 1975 bei Bacillus Records, mit exquisit gestaltetem Booklet, in dem großformatige Farbzeichnungen die Songtexte bebilderten. Sämtliche Lyrics wurden abgedruckt und ein Statement der Macher über ihr Werk war ebenfalls zu lesen. Schließlich wurde "Victor" gar für das ZDF verfilmt.
Dennoch blieb das Album immer ein Geheimtipp unter den Fans progressiver Rockmusik. Man könnte sich natürlich den Kopf darüber zerbrechen, woran das lag - hatte sich die Popkultur Mitte der Siebziger schon weg von verinnerlichten und philosophischen Themen zum Abtanzen im Discosound hin entwickelt? War das Publikum durch immer mehr und immer größere Bombast-Eskapaden überdröhnt?
Sollen sich die Musikhistoriker ruhig über solche Fragen streiten - klar ist jedoch: An mangelnder Qualität kann das Schattendasein, das "Victor" im Rockgeschäft fristete, nicht liegen, denn sowohl musikalisch wie textlich und auch von der Gesamtkonzeption her, steht dieses 'symphonische Gedicht' (voller Titel: "Victor - A Symphonic Poem") den ganz großen Epen des Musiktheaters in nichts nach. Man kann "Victor" getrost in einem Atemzug mit "Tommy", "Quadrophenia", "Jesus Christ Superstar" und The Who hatten mit The Lamb Lies Down On Broadway nennen.
Formal hebt sich das Werk allerdings auch von diesen Liedzyklen ab, reiht nicht nur Songs aneinander: Die mitreißenden, emotionsgeladenen Rocknummern wechseln sich ab mit rein orchestralen Passagen - so stellen Manuel Rigoni und Richard Schoenherz die äußere Welt und Victors inneres Universum nebeneinander. Die ersten Annäherungsversuche beider - auch musikalischer - Wirklichkeiten finden im Lauf von Victors Suche nach sich selbst, eher zaghaft statt und erst am Ende des Werks verschmelzen die rockige und die symphonische Welt vollkommen in "The Story Of Life". Dieses Lied wird übrigens von Kurt Hauenstein, dem leider kürzlich verstorbenen Mastermind der österreichischen Poplegende Supermax gesungen.
Ansonsten ist Richard Schoenherz für die meisten Leadvocals selbst verantwortlich und bei den deutlich erkennbaren Qualitäten ist es schade, dass er sich später fast ausschließlich dem Komponieren und Arrangieren widmete. Die Band ist fantastisch eingespielt und die an "Victor" beteiligten Klassikensembles sind ohnehin legendär.
So kann man auch keinen Song oder kein Instrumentalstück als besonders gelungen hervorheben. Der Reiz dieses Werks erschließt sich ausschließlich beim Kompletthören. Und genau das lohnt sich wirklich. Es ist sehr erfreulich, dass das Label MIG dieses Ausnahmewerk wieder zugänglich macht, da Richard Schoenherz mit seinen wegweisenden Musikhörbüchern "Rilke Projekt" und "Hesse Projekt" in den letzten Jahren einen gewissen Popularitätsschub verbuchen konnte, wo er zu seinen exzellenten Kompositionen namhafte Schauspieler und Popkünstler Texte der beiden Dichter rezitieren lässt (von Karlheinz Böhm über Klaus Meine bis zu Anna Thalbach und Udo Lindenberg reicht die Palette) ist zu hoffen, dass auch diese Wiederveröffentlichung ihren Weg macht und der Rockoper endlich die Aufmerksamkeit geschenkt wird, die ihr gebührt.
Line-up:
Richard Schoenherz (keyboards, lead vocals)
Manuel Rigoni (drums, percussion)
Kurt Hauenstein (bass, lead vocals on "Song Of Life")
Harry Stojka (guitars)
Achim Buchstab (lead vocals on "Who Is Victor" and "Where Is Victor")
Johan Daansen (guitars)
Peter Wolf (ARP on "The Invitation")
The Royal Philharmonic Orchestra
Wiener Akademie Kammerchor
Tracklist |
01:Part 1
The Invitation
The Head Of The Circus Sings For His Beloved Audience
Who Is Victor
02:Part 2
Victor's Song For Himself
Victor's Song For His Father
03:Part 3
Where Is Victor
Victor's Dream
04:Part 4
Victor's Song For The White Man
The Song Of Life
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Externe Links:
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