Rush / Clockwork Angels
Clockwork Angels Spielzeit: 66:08
Medium: CD
Label: Anthem, 2012
Stil: Prog Rock


Review vom 04.08.2012


Boris Theobald
»I was brought up to believe / The universe has a plan / We are only human / It's not ours to understand
The universe has a plan / All is for the best / Some will be rewarded / And the devil take the rest
All is for the best / Believe in what we're told / Blind men in the market / Buying what we're sold«

("BU2B")
'Nicht von dieser Welt' - solche Worte bemühe ich nicht selten, wenn es um Rush geht. Aber bei kaum einem Album zuvor waren so treffend, und das in vielerlei Hinsicht. "Clockwork Angels" ist ein über Jahre entstandenes Konzeptalbum, dessen Songwriting zum Besten der Bandgeschichte gehört und für das sich Geschichten-Guru Neil Peart schier selbst übertroffen hat. Wie überschwänglich loben er, Geddy Lee und Alex Lifeson den Spirit der Musik und die Begleitumstände ihrer Entstehung - und siehe bzw. höre da: Sie haben sogar noch deutlich untertrieben ...
Man habe sich zurück besonnen auf die Art und Weise, wie die Band früher Songs geschrieben habe. "Clockwork Angels" wurde wie "Caress Of Steel" oder "2112" aufgenommen, sagt Alex Lifeson. Wie soll man das verstehen, besonders die Beteuerungen, den ursprünglichen Vibe zurück erlangt, endlich wieder 'als Trio' komponiert zu haben? Ganz einfach: Sie haben nicht 'komponiert'. Sie haben gespielt. Snakes And Arrows war und ist großartig. Aber tatsächlich besteht der Nachfolger weniger aus solchen 'perfekten' Songs, sondern vielmehr aus Musik, die lebt, pulsiert, atmet, ackert und ächzt.
Mehrere Songs sind aus Jams heraus gewachsen und stecken voller Improvisation. Produzent Nick Raskulinecz soll das aus ihnen heraus-'gefordert' haben. Sie nennen ihn 'Booujzhe', wegen seiner energischen Art, sogar die Drumparts mit verbalakrobatischer Lautmalerei vorzusingen. Es entstanden mitunter Siebeneinhalb-Minüter wie der Titeltrack oder "Headlong Flight". Anspielungen auf die eigene Bandgeschichte sind entweder gewollt, wie laut Alex Lifeson mit einem Stück "Bastille Day" in "Headlong Flight", oder womöglich auch Gegenstand subjektiven Empfindens. Ist da nicht ein Hauch von "La Villa Strangiato" in der subversiven Schrägheit der Gitarrenzwischenspiele von "Carnies"?
In "Caravan" und "BU2B" duellieren sich die düster-verproggten heavy Grooves der neueren Bandgeschichte mit der zeitlosen Schönheit von Lifesons Clean-Arpeggien. "Seven Cities Of Gold" scheint zurückzugehen in die Mitt-Siebziger, als man noch Blues-rockige Led Zep-Einflüsse ausmachte. Und "The Wreckers" belebt die fast leichtfüßige Sangbarkeit mit diesem Hauch irrsinnig schöner Melancholie der Spät-Achtziger-/Früh-Neunziger-Phase von Songs wie "Presto" oder "Bravado". Seither wurden auch die Synthesizer nicht mehr mit derartigem Spürsinn eingesetzt. Bis jetzt.
Von der bedrohlichen Wucht eines Kraftprotzes wie "BU2B" über Glanz und Eleganz gedankenversunkener Halbballaden wie "Halo Effect" und "The Garden" (mit einem Gitarrensolo zum Niederknien) bis hin zur technischen Attraktion von "Headlong Flight" besteht dieses Album nur aus Weltklasse-Nummern. Und doch habe ich einen Favoriten: "The Anarchist". Welch eine Dynamik! Eine derart intuitive Verschmelzung von Ryhthmus- und Lead-Gitarre hat es ewig nicht gegeben. Und welch eine Bass-Melodie! Das ist stilistisch irgendwo zwischen "Permanent Waves" und "Moving Pictures" einzuordnen, qualitativ zwischen "Freewill" und "Limelight". Nicht zu fassen, was ich höre ...
Die Band selbst ist besonders stolz auf den Titelsong "Clockwork Angels". Das ist auch ein Prachtstück. Die verzerrten und nachhallenden Power Chords zaubern fabelhafte Atmosphären hervor. Unnachahmlich ansatzlos wechseln die Gitarrensounds und verformen zigfach den kompletten Charakter des Stücks, während Neil Peart eine der gefühlsbetontesten Rhythmusarbeiten seiner Karriere zelebriert. Es ist der emotionale Höhepunkt des Albums und der Geschichte, die es erzählt. Mit Rush tauchen wir in eine andere Realität ein - 'was wäre, wenn ...'
Es geht um einen jungen Mann, der sein kleines Dorf verlässt, um die große weite Welt kennenzulernen und alles zu hinterfragen, was gottgegeben scheint. Um die 'göttlichen' Wesen dieser Parallelwelt geht es in jenem Titelsong. Die Dynamik und die Intensität von "Clockwork Angels" beschreiben die Faszination des Protagonisten bei seiner Ankunft in der Stadt 'Crown City':
»The place I had most wanted to see - Chronos Square, at the heart of Crown City. I had seen many images of the city before, and Chronos Square, but nothing could convey its immensity - the heaven-reaching towers of the Cathedral of the Timekeepers, or the radiant glory of the Angels - Land, Sea, Sky, and Light - bathed in the brilliant glow of the floating globes.«
Das ist die Peart'sche Prosa zur Peart'schen Poesie, denn die Lyrics eines jeden Songs werden im Booklet von kleinen kommentierenden Textportionen begleitet. Und natürlich von den Bildern des legendären Hugh Syme. Sie illustrieren Neil Pearts Hauptinspirationen. Dazu gehören dieses Mal Wildwest-Legenden ("Seven Cities Of Gold"), Geschichten von Gauklern ("Carnies"), alchemistische Weltanschauungen (allein schon auf dem Cover!) und vor allem 'Steampunk'. Dabei handelt es sich um die Idee eines Sci-Fi-Fantasy-Szenarios, gemischt mit Elementen der Vergangenheit: Industrialisierung, viktorianische Anmut und Wild-West-Vibe. Von 'Retro-Futurismus' ist schon mal die Rede. Es hat etwas von H.G. Wells und Jules Verne; und es ist faszinierend!
'Steamliner' tuckern durch die Luft - eine Art Mischung aus Zeppelin, Segelschiff und Dampfmaschine. Die physikalischen Gesetze wiegen weitaus weniger schwer als Fantasie und Vorstellungskraft - und sicher auch die Regeln des herrschenden 'Watchmakers' und das Urvertrauen in alchemistische Priester. Es existiert eine Art Religion um mystisch verklärte 'Clockwork Angels'. Mich beeindruckt diese Mischung aus der diffusen Ehrfurcht vor übermenschlichen Wesen auf der einen Seite und der Präzision von Uhrwerken als 'universellem' Taktgeber auf der anderen. Ist der Lauf der Zeit unantastbar und somit 'göttlich', oder steuern die Götter die Zeit? »Fairy tales and religion are fascinating if you don't believe them« meint Neil Peart etwas neckisch zu seinem findigen Mosaik aus Einflüssen und Einfällen.
"Clockwork Angels" erzählt von einer Reise durch faszinierend kreative, fabulöse Parallelwelten. Und die Reise ist zugleich eine innere. Es geht darum, was ein lebenslanges Abenteuer aus den ganz großen Träumen eines ganz normalen, 'kleinen' Menschen macht, der alles gesehen und alles erlebt hat. Am Ende steht eine desillusionierter Protagonist. Und ein erstaunlich großer Teil des Albums beschäftigt sich damit, wie aus ultimativer Ernüchterung Selbstvertrauen und Hoffnung entstehen. Die Handlung bleibt oft unkonkret. Aber genau dafür soll noch rechtzeitig zu Tour 2013 der zum Album gehörende Roman erscheinen und die Lyrics der Songs zu Fußnoten des Buchs werden. Der Autor wird Kevin Anderson sein, mit dem Neil Peart dafür eng zusammenarbeitet und der ihn überhaupt erst für das Konzept des Steampunk begeistern konnte.
Bis dahin füllt die Vorstellungskraft nach und nach die Lücken der Geschichte von "Clockwork Angels", befeuert von 'zeitlos' großartiger Musik. Beides scheint nicht von dieser Welt.
Ein letzter Blick aufs Plattencover. Es ist... 21:12 Uhr (!).
»Belief has failed me now / Life goes from bad to worse
No philosophy consoles me / In a clockwork universe

Life goes from bad to worse / I still choose to live
Find a measure of love and laughter / And another measure to give«

("BU2B2")
Line-up:
Geddy Lee (vocals, bass, bass pedals, keyboards)
Alex Lifeson (guitars, keyboards)
Neil Peart (drums, cymbals, tambourine)
Tracklist
01:Caravan (5:40)
02:BU2B (5:10)
03:Clockwork Angels (7:31)
04:The Anarchist (6:52)
05:Carnies (4:52)
06:Halo Effect (3:14)
07:Seven Cities Of Gold (6:32)
08:The Wreckers (5:01)
09:Headlong Flight (7:20)
10:BU2B2 (1:28)
11:Wish Them Well (5:25)
12:The Garden (6:59)
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