Judge Smith / Orfeas - A Songstory By Judge Smith
Orfeas Spielzeit: 77:42
Medium: CD
Label: Masters Of Art, 2011
Stil: Songstory

Review vom 27.04.2012


Boris Theobald
Orpheus verliert seine geliebte Muse Eurydike. Er steigt hinab in die Unterwelt und bekommt sie zurück. Unter einer Bedingung: Er darf auf dem Weg nach oben nicht zurückschauen. So weit die griechische Mythologie.
Und heute Abend spielt er in der Wembley Arena. Willkommen in der 'Songstory' von Judge Smith. Der einstige VDGG-Mitgründer verpflanzt in einem fast 78-minütigen musikalischen Erzählspiel den Mythos ins Hier und Jetzt. Aus Orhpeus, dem zauberhaften Lyra-Spieler wird George Orfeas, legendärer britischer Rockgitarrist, der Generationen beeinflusst hat und nach wie vor die Stadien füllt. Aber immer mit den selben alten Hits, nur neu interpretiert. Er improvisiert, es 'fliegt ihm zu', wie von der Muse geküsst.
»I think I must have a special brain. All I know is I pick up old 'Furry Dice' and off I go. I don't have to think about it much.«
Er ist nichts ohne diese spezielle Gitarre, die einst wie aus dem Nichts auftauchte und backstage auf dem Tisch lag. 'Furry Dice' stand drauf, in etwas undeutlichen Lettern... εur(r)yDice... Die Fans lieben ihn und er seine teuren Autos. Bis eines Tages sein wundersames Instrument spurlos verschwindet.
Ende des ersten Aktes. Judge Smith erzählt seine Geschichte in Anlehnung an die klassische Tragödie in dreien, der Hamartia (der Fehler des Helden), Anagnorisis (Wiedererkennung der Wahrheit) und der Peripetie (Wendepunkt). Szenen gibt es 34, einige ziehen sich mehrteilig durchs Werk: Monologe, Dialoge und natürlich Musik. Die 'George Orfeas Band', das ist instrumentale Rockmusik mit einem Mix aus Classic Rock und urig-jazzigem Prog Rock mit Saxofon und Akkordeon. Die Hooks und Hymnen sind mindestens so cool, wie sie heißen: "Rundown Rudi" oder "Seven Yard Promenade". Und "Wolfman George" - unglaublich schmissig! Ein drollig-schunkliges Akkordeon-Riff; und über den Polka-Style hinweg quietschen Gitarre und Saxofon in Southern-rockigen Double Leads. Ganz schön eigensinnig, was Judge Smith 'seiner' Band unter der Führung von John 'Fury' Ellis alias 'The Hands of Orfeas' da zurechtgeschrieben hat. Publikums-Atmo und herrlich britische Ansagen sorgen dafür, dass alles fließt, immer wieder hinein in die Musik und raus aus der Musik...
... und hinein in die monologischen "Soliloquy"-Sprechsequenzen mit instrumentalem 'Kommentar'. Je nach Stimmung schwankt dieser zwischen Rock, Jazz, Funk und halborchestralen Slapstick-Filmmusikschnipseln.
»Off they go. Look at their little heads bobbing up and down. Like a bunch of meerkats. It wouldn't matter what I played. I could be doing complete crap, and they'd still think it was the voice of God...«
... und hinein in die Dialoge: George Orfeas' Radio-Interviews mit Mike Tyger, dem Gastgeber von 'The Hour of Rock'. Da gibt sich der Held dann schon weniger arrogant; es hören schließlich Leute zu. Und wir erst Recht, denn Judge Smith greift noch auffälliger zu seinem besonderen Trick. Er nennt es' Speech-music': Ein Streichsextett imitiert und kommentiert nun die Stimmen, zeichnet Rhythmus und Sprechmelodie nach. Das ist abgefahren!
Vom klassischen Touch zum mediterranen - "The Bard" taucht als außenstehender Kommentator auf, greift inbrünstig in die Saiten der Akustikgitarre, besingt kunstvoll überkanditelt und betörend theatralisch die Wendungen im Schicksal von Orpeus und Orfeas. Er macht da keine großen Unterschiede - die Grenzen verschwimmen ins Zeitlose.
Der multistilistische Musikreigen wird im zweiten Akt noch verrückter. Nach dem Verlust seiner geliebten Gitarre cancelt der große George Orfeas panisch seine Tour. In aufgewühltem Zustand baut er einen Autounfall, landet im Koma und hat eine Nahtoderfahrung. Der Weg in diese 'Unterwelt' führt über einen imaginären Tunnel, begleitet von brutaler Trance-Musik (!), die nicht nur George Orfeas weh tut. Judge Smith lässt uns Schmerz und Verzweiflung des Protagonisten musikalisch nachfühlen. Ist der denn verrückt? Nein, ist er nicht. Die volle Ladung Elektro-Mucke ist ein dramaturgischer Effekt. Und George Orfeas' Kommentar dazu ist einfach der Brüller: »Oh no, I knew it; I'm dead. And Hell is a disco...«
Die urkomischen Momente des musikalischen Hörspiels summieren sich zusehends. Orfeas wird von einer genervten Eurydice empfangen. Sie erklärt ihm, dass 'seine' Gitarre von ihr, seiner Muse, stammt. Sie hat ihm damit sein Talent geschenkt: »You don't think that you've made it all yourself, do you? You and your 'Special Brain'? No one makes music out of nothing. You pick stuff up on the solar wind, then change it and improve it, or change it and spoil it.«
Orfeas bettelt, will aber bei der Gelegenheit noch schnell die Hölle sehen - eine Etage tiefer gibt es dann auch noch thrashig-aggressiven Metal der Marke Ur-Mekong Delta mit höllisch bösem Sprechgesang zum rhythmischen Rasseln der Kerker-Ketten. Was für eine Akustik-Show... amüsantes Highlight ist "The Crab Nebula", wo Frank Zappa und Mozart einander mit Groupie-Geschichten überbieten und Freddie Mercury mit Schubert Champagner schlürft. Und dazu ein surrealer Orgel-Drive in Lamb-Atmo.
Natürlich bekommt Orfeas nochmal eine Chance und bekommt seine Eurydice - pardon - seine 'Furry Dice' zurück... Ein Jahr nach seinem beinahe tödlichen Unfall feiert er sein Comeback. Und das mit dem Zurückblicken ist so eine Sache. Keine alten Songs mehr, stattdessen ganz neue Wege: Die George Orfeas Band zusammen mit einem Rapper auf der Bühne:
»With the message he brought back from Hell
That he's compelled to tell, so listen well. He say
Don't look back. (Yo, Big 'O')
Don't look back. (Word up, y'all)...«

Nur, das mit dem 'Nicht-Zurückblicken' ist so eine Sache, wenn die Fans streiken, die Clubs kleiner werden und irgendwann das Angebot kommt, auf einem großen Festival noch ein einziges Mal die alten Hits zu spielen...
Beeindruckend: "Orfeas" ist keine Rockoper, kein Musical, kein Konzeptalbum und kein Hörspiel - oder doch von allem etwas? Eine 'Songstory', eben, Judge Smiths Erzähltechnik... Die ist absolut unaufführbar, wie er selbst sagt; dafür eine 'fantastische' akustische Kopf-Sache, brillant produziert. Zugegeben: nichts für ganz oft. Aber ganz sicher etwas, das man seinen Freunden zusteckt und sagt: 'Tu dir das unbedingt mal an!' Nix, um nebenbei zu hören - aber auch zum Glück nicht kompliziert, keine schwere Kost, viele Gags inklusive. Der Spaßfaktor bleibt nicht auf die Story beschränkt, sondern setzt sich im dicken, ausführlichen Booklet fort, wo alle Beteiligten mit Foto zu sehen sind. Nur nicht die fiktive Death Metal-Band 'Black Path', die ganz zum Schluss George Orfeas' Ende besingt (»Mal-Metal Band Black Path do not release photographs or personal information. Guitarist Colonel Infernal says, 'We are faceless Evil.'«).
Judge Smith beschreibt mit seinem fiktiv-exemplarischen Orfeas die Zwickmühle alternder Rockstars, und zwar mit einer erfrischenden Kombination aus Pfiff und Tiefsinnigkeit. Der Mythos 'Orpheus' wird zur zeitgenössischen Geschichte; und die Geschichte eines Altrockers wird zum Mythos.
»One thing that distinguishes a Myth from a mere Story is its resilience. It's easy to spoil a story, but it's almost impossible to ruin a Myth. A Myth can be recounted in a thousand different ways, over thousands of years, and still remain a good story.«
Line-up:
As The George Orfeas Band:
John 'Fury' Ellis (lead guitar ['The Hands Of Orfeas'], rhythm guitar)
David Jackson (saxophones ['Maxwell Blow'])
Marco Olivotto (bass)
Bert Santilly (accordion ['Ronnie'])
David Shaw Parker (rap voice - #28 ['MC Hi Crimes'])

As Eurydice:
Lene Lovich

As The Bard Anachronistes:
David Shaw Parker (voice & acoustic guitar)

As The Band In Hell & Bacchus:
'Black Path'
with René van Commenée (guest lead voice [as 'Willem' & 'The Singer'])

The Interview Ensemble:
Ricardo Odriozola (violins and violas)
Ben Nation (cellos)
David Shaw-Parker ('Mike Tyger')
Dorie Jackson (radio jingle voice)

The Soliloquies:
David Minnick (percussion, keyvoards, guitar, bass)
John Ellis (speech-music guitar)

As George Orfeas:
Judge Smith
Tracklist
Act One - Hamartia
01:The Bard - One (1:55)
02:Rundown Rudi (4:13)
03:Soliloquy - One (0:46)
04:Seven Yard Promenade (3:33)
05:Interview - One (3:28)
06:Orphic Lullaby (4:01)
07:Soliloquy - Two (0:51)
08:Wolfman George (3:14)
09:Soliloquy - Three (1:25)

Act Two - Anagnorisis
10:The Bard - Two (1:41)
11:Soliloquy - Four (1:43)
12:In-Flight Movie - One (3:11)
13:Orfeas And Eurydice - One (2:59)
14:In-Flight Movie - Two (0:58)
15:In Hell - One (0:18)
16:Carpet Of Bones (4:31)
17:In Hell - Two (0:41)
18:In-Flight Movie - Three (0:52)
19:Orfeas And Eurydice - Two (1:53)
20:The Crab Nebula (1:47)
21:Orfeas And Eurydice - Three (1:11)
22:Orfeas' Audition (4:49)
23:Don't Look Back (2:42)
24:In-Flight Movie - Four (1:16)

Act Three - Peripeteia
25:Interview - Two (4:11)
26:Fishin' In The Styx (3:28)
27:Soliloquy - Five (0:49)
28:Don't Deafen Me, Persephone (4:28)
29:The Bard - Three (1:18)
30:Soliloquy - Six (0:48)
31:Catastrophe In Czecho (1:32)
32:An Announcement (0:43)
33:Tear Him Asunder (4:07)
34:The Bard - Four (2:17)
Externe Links: