Der Begriff 'Neo Prog' impliziert, dass da etwas ohnehin bereits 'progressives' in irgendeiner Form neu erfunden wurde. Da ist es schon krass, dass der Begriff als solcher nun schon mehr als ein viertel Jahrhundert auf dem Buckel hat und immer noch herhalten muss. Innerhalb dieser Zeit gab es viele Durchschnitts-Werke; denn all zu groß ist die Gefahr, langweilige psychedelisch wabernde Klangwelten zu synthetisieren, die den Hörer nur mitnehmen, wenn er den selben Stoff geraucht hat wie der Songwriter. Das ist - zumindest zum größten Teil - nicht der Fall bei den 2003 mit ihrem Debüt an den Start gegangenen Satellite aus der Neo Prog-Hochburg Polen.
Auf ihrem vierten Longplayer "Nostalgia" sperrt sich die Band um Alleinkomponist Wojtek Szadkowski nämlich nicht gegen moderne Einflüsse. Die Songs sind gespickt mit Effekten; und auch elektronischer Percussion verweigert man sich an der ein oder anderen Stelle nicht, wenn sterile, gefühlskalte Stimmungen transportiert werden sollen. Darf man da noch ein zweites 'Neo' vor das 'Neo Prog' setzen? Nun ja - die Revolution stößt an ihre Grenzen. Denn gleichzeitig hält man die alten musikalischen Gepflogenheiten, die Wurzeln des Genres, weiterhin hoch - unzählige Male klingt der Charme der großen Symphonic- und Art Rock-Bands der 70er durch.
Ein Meisterstück des durch und durch modernen, nicht nur Effekte inkorporierenden, sondern auch Weltmusik atmenden Prog Rocks ist ganz sicherlich "Over Horizon". Von orientalischem Schlagwerk angetrieben erzeugt dieses Stück zunächst bedrückende Atmosphären, verstärkt durch unheimliche Synthesizer-Effekte und schwermütigen, etwas geheimnisvoll anmutenden Gesang, was bei ziemlich angezogenem Tempo ordentlich fesselt.
»Layers of grey over horizon/ Slippin' inside windows wide open/ Digging black holes within your conscience/ Like slow motioned tears silver and hollow«…
Die große Überraschung ist dann der Chorus: Eine schier explosive Extra-Portion an positiver Energie in Form von extrovertiert interpretierten, hoch hinaus reichenden Gesangslinien und Bläser-Akzenten des Keyboards. Eine musikalische Wundertüte, wie sie auch von Peter Gabriel oder Fish stammen könnte.
»Step out from the dark/ Yes, Dive on, dive on into the river of light.«
Diese dermaßen lebendig in Musik übertragene Textzeilen stecken voller Leben, sind erfrischend und machen glücklich.
'Klassischer', jedoch nicht minder durchdrungen von Überraschungsmomenten und auf ganz andere Weise erhebend ist "Am I Losing Touch" - für mich der zweite Höhepunkt des Albums. Hier wird man zunächst zauberhaft eingelullt von butterweichen Gitarren- und Streichermelodien, unterlegt von einem Bass, der durch Mark und Bein geht - der Titel des Albums, "Nostalgia", passt ganz wunderbar zu dieser wehmütig-schönen Stimmung. Statt in psychedelischen Sphären irgendwann an der eigenen Schönheit zu ersticken, wird genau im richtigen Moment hart gerockt; die Atmosphären werden dichter. Nach einer minutenlangen, enorm dynamischen und teils funkig angehauchten instrumentalen Darbietung zieht sich das Energielevel schließlich wieder raffiniert auf das Anfangsschema zurück - der Song erstarrt gegen Ende regelrecht; toll gemacht!
Auch nicht von schlechten Eltern ist der Opener "Every Desert Got its Ocean" als Vorzeigeexemplar einer anspruchsvollen Neo Prog-Architektur: Bombastisch, rhythmisch komplex, abwechselnd geprägt von altmodischen Synthesizern und atmosphärischen Gitarren, voll gepackt mit harten Breaks. Theatralischer Gesang. Freunde von Arena dürften hier auf ihre Kosten kommen. Nicht ohne Längen bleibt das knapp neun Minuten lange "Afraid Of What We Say", das über weite Strecken wie eine klanglich etwas in die Neuzeit verrückte Pink Floyd-Hommage im Stile von RPWL klingt - in späteren intensiveren Momenten mit markanten Keyboards ausgestattet, wie sie den Klang von Genesis in den 80ern prägten. Der davor stehende, ausgedehnte, Frickel-Solo-Part über elektronischer Percussion ist allerdings Geschmackssache.
Das lässt sich auch über das über weite Strecken recht experimentierfreudige "Repaint The Sky" sagen, das ein paar Hördurchläufe benötigt, dann jedoch mit seiner poppig-melancholischen Art in nahezu rhapsodisch unberechenbarer Struktur dem geübten Prog-Ohr durchaus zu gefallen weiß. Bleiben noch zwei Stücke zu erwähnen. "I Want You To Know" ist ein eingängiges, balladenhaftes Stück, das wie eine gefällige, aber wenig spektakuläre Adaption früher Marillion zu Fish-Zeiten klingt (die konnten ja auch Balladen schreiben, siehe "Kayleigh"). Ganz und gar verzichtbar - oder sagen wir: krass zusammenkürzbar - wäre indes der überlange, trauernde Ausklang "Is It Over" gewesen, bei dem leider mehr als sieben Minuten lang denkbar wenig geschieht.
Trotz einiger Schwächen bleibt "Nostalgia" eine lohnenswerte Anschaffung - vor allem mit "Over Horizon" und "Am I Losing Touch" stehen mittellange Prog-Perlen zum Zungeschnalzen auf der Titelliste. Allerdings liegen im Neo Prog-Jahr 2009 die britischen Veteranen von Pendragon mit Pure eine Nasenlänge weit vor Satellite.
Line-up:
Robert Amirian (vocals)
Sarhan Kubeisi (guitar)
Jarek Michalski (bass)
Wojtek Szadkowski (keyboard, acoustic guitar, drums)
Guest musicians:
Krzysiek Palczewski (additional keyboards)
Amarok (additional keyboards, guitar solo on #7)
Tracklist |
01:Every Desert Got Its Ocean (9:13)
02:Repaint The Sky (6:56)
03:Afraid Of What We Say (8:47)
04:I Want You To Know (7:20)
05:Over Horizon (8:04)
06:Am I Losing Touch (9:45)
07:Is It Over? (7:30)
|
|
Externe Links:
|