Schon seit einigen Jahren prescht Pop mit deutschen Texten wieder vehement in die Musikszene. Ob man nun im Juli auf der »perfekten Welle« reiten, oder mit Tim, aber ohne 'Struppi' »schnell die Welt retten« mag: Auch hierzulande haben Texte in der Muttersprache wieder Konjunktur. Kein Wunder, dass das Monument deutschsprachiger Rocklyrik, unser aller Udo, nun sogar mit einem Musical in Berlin gefeiert wird.
Und genau von diesem Urgestein teutonischer Popkultur führt ein direkter Weg zum zweiten Silberling des Newcomers Vince, der nun mit "Tief" sein zweites Album vorlegt. Das Prädikat 'Frischling' geht dennoch gewaltig an dem Hamburger Musiker vorbei. Letztlich ist er ein erfahrener Produzent und Komponist, der bislang nur nicht so sehr im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand. Doch zu seinen Arbeiten zählen Kompositionen und Produzentenjobs für Udo Lindenberg, unter anderem große Mitwirkung an dessen mitreißenden Comeback-Album Stark wie zwei. Daneben ist Vince Bahrdt die pianeske Seite des Duos Orange Blue und zeichnet auch für einige Songs aus Disney-Filmen verantwortlich, etwa dem Urzeitepos "Dinosaurier".
Stellt man sich der Intensität der Balladen auf "Tief", erkennt man: Vince ist nicht ein x-beliebiger Musiker - vielmehr lebt er die Musik, die er kreiert und interpretiert. Als erfahrenem Producer ist ihm höchstmögliche Kontrolle über das endgültige Werk sehr wichtig und so entstand die aktuelle Scheibe nahezu komplett in Eigenregie. Sicher, die Songs sind kommerziell gestrickt und zielen geradewegs auf die Charts. Aber ist das verwerflich? Was Vince' Werke nämlich eindeutig abhebt von der Masse der gewollt auf Verkaufszahlen getrimmten Schnellschüsse vieler Major-Companies, ist ihre Authentizität. Die Musik ist clever, die Texte smart und doch steht das unmittelbare Gefühl im Zentrum der Songs. Die Melodien sind eingängig, aber beileibe nicht anspruchslos und gemeinsam mit den Lyrics öffnen sich die Pforten des Kopfkinos beim Hörer. Die geschilderten Gefühle sind nachvollziehbar, manchmal so vertraut, dass man fast glaubt, man wäre Teil dieser musikalischen Bilder und Stories. Die eigene Phantasie regt Bahrdt mit offenen Bedeutungsstellen in den Texten an - man fragt sich manchmal: Singt er da über eine alte Flamme? Oder einen neuen Schwarm? Oder meint er Gott? Alles ist möglich und so fühlt sich der Hörer beim Lauschen oftmals wie zu Hause.
Die Frage, wie weit sich Vince auch an Gott wendet, stellt sich bereits, wenn man die Tracklist des Albums studiert: "Vergebung", "Gebet" und "Unser Wesen" scheinen hier eine deutliche Sprache zu sprechen - wer die Produktion aber nun unter 'Sacro Pop' abheften will, befindet sich in der Sackgasse.
Die Inhalte der Lieder sind einfach zutiefst menschlich, die spürbar spirituellen Qualitäten in Wort und Musik nicht Ausdruck einer bestimmten, einschlägig geprägten Religiosität. Die klangliche Umsetzung von Vince' Versen ist rundum gelungen - er trifft für jede inhaltliche Nuance den richtigen Ton. Von zarten Pianoakkorden können sich die Arrangements zu wahrhaft bombastischen Höhen aufschwingen. Was bei vielen Kollegen im Business wie klebriger Emotionsexhibitionismus wirken würde, bleibt bei Vince aufrichtig. In den intensivsten Momenten erschaffen die Klänge Kleinodien berührender Intimität. Neben den instrumentalen Fertigkeiten Bahrdts tut die perfekt eingesetzte Produktionsmaschinerie hier ein Übriges.
Für Überraschungen sorgt auch die Liste der beteiligten Gäste. Die Connections, die Vince als Producer sammeln konnte, zahlten sich hier deutlich aus: Udo Lindenberg leiht seine charakteristische Stimme dem Song "Habsucht", in "Vergebung" singt Vince im Duett mit Cosma Shiva Hagen, das "Gebet" wird von Ben Becker rezitiert. Und das ist erst die Spitze des Eisbergs.
Vince Bahrdt betont allerdings, dass die meisten dieser Gastauftritte ursprünglich gar nicht geplant waren, sondern sich wie durch Fügung oder Zufall ergaben. 'Lindi' hörte das Demo von "Habsucht" beispielsweise mal in Vince' Auto, als sie gemeinsam zu einem Studiotermin unterwegs waren. Der Rockdinosaurier war beeindruckt und rief Bahrdt irgendwann danach mitten in der Nacht an und schlug vor, dass er gerne den Refrain übernehmen wolle. Die Idee wurde stehenden Fußes, also tatsächlich noch in derselben Nacht, umgesetzt. So gibt es zu jedem Song seine eigene Geschichte.
Der Mitwirkende bei "Tief", der den Rezensenten am stärksten verwunderte, ist Siegfried Lenz. Dieser liest in "Von Ludmilla" Auszüge seiner gleichnamigen Erzählung. Bahrdt berichtet, dass diese Geschichte schon immer zu seinen liebsten literarischen Texten gehöre… und, da er weitläufig mit Lenz verwandt sei, fragte er einfach mal nach, ob der alte Meister nicht bereit sei, auf einer Pop-Platte zu reüssieren. Zu Vince' eigener Verwunderung sagte der entfernte Onkel zu - sicher einer der bewegendsten Momente auf dieser beeindruckenden Produktion.
Noch vor der offiziellen Veröffentlichung des Albums wurden die beiden Singles "Tief" und "Du fehlst" ausgekoppelt: wunderbare Balladen mit höchst positivem Schmacht-Faktor. Aber das ist auch nur eine Seite von Vince - neben der Darstellung intensiver Gefühlsmomente kann er auch musikalische Skizzen von allen möglichen Typen, die unser Leben bevölkern, mit Piano und Stimme entwerfen. So z.B. "Der Spieler" oder auch "Der Superkerl". Musikalisch und textlich ist Vince selbst letztlich beides. Eine ausgereifte, beeindruckende Produktion, der man Erfolg und viele Nachfolger wünscht.
Das Album erschien zudem, neben der regulären Veröffentlichung, auch als aufwändige Deluxe-Edition, bei der als Bonus noch eine CD mit Liveaufnahmen und eine DVD beigefügt werden.
Line-up:
Vince (Gesang, Flügel, Keyboards & Programmierungen)
Sami Khatib (Gitarren, Bässe & Programmierungen)
Boris Bachmann (Solo-Violinen und Oktav-Geigen)
Boris Bachmann, Stefan Pintev, Juliane Merse, Sono Tokuda (Violinen)
Daniela Frank-Muntean, Torsten Frank (Violas)
Yuri Christiansen, Alexandre Bagrintsev (Celli)
Tracklist |
01:Tief
02:Du fehlst
03:Die Habsucht (feat: Udo Lindenberg)
04:Gebet (feat: Ben Becker)
05:Vergebung (feat: Cosma Shiva Hagen)
06:Unser Wesen (feat: Betrand Gille)
07:Der Spieler (feat: Volkan Baydar)
08:Sackgasse (feat: Birgid Jansen)
09:Der Superkerl
10:Echt
11:Von Ludmilla (feat: Siegfried Lenz)
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