»Ich bin dazu gezwungen worden, und zwar von meiner Plattenfirma. Schönen Dank auch, an meine Plattenfirma. Die sind zu mir gekommen, haben gesagt, Hannes, du wirst 70, vielleicht weißt du das nicht, aber du wirst es. Und da sollte jetzt eigentlich endlich mal 'ne neue Platte mit eigenen Liedern von dir erscheinen. Und das hab ich eingesehen und habe mich hingesetzt und angefangen zu schreiben. Konnte irgendwann auch gar nicht mehr aufhören zu schreiben, das hat mich dann ergriffen und jetzt ist die CD da und ich finde, die ist auch ganz schön geworden.« So erklärt Hannes Wader die Entstehung von "Nah dran".
Kokettiert er da mit einer ihm gar nicht zugetrauten Fügsamkeit oder entschuldigt er auf die Art gleich mal den Fall, dass die Scheibe beim Hörer vielleicht nicht ankommen könnte?
Neu ist das auf jeden Fall nicht, denn schon mein Kollege Norbert berichtete ähnliches vom Mal angenommen-Album, das vor sechs Jahren erschienen ist. In der Zwischenzeit gab es mit den "Neuen Bekannten" alte Bekannte neu aufgenommen und die Live-Scheibe "Kein Ende in Sicht", die er mit Konstantin Wecker zusammen aufgenommen hat.
Doch bevor ich jetzt die durchaus imponierende Diskografie weiter bemühe, richte ich das Augenmerk lieber wieder auf "Nah dran" und gehe ganz nah ran an den neuen Silberling. Ist das jetzt das von Norbert erwartete Alterswerk? Hmmmmmmmmmm.....so wirklich überzeugen kann es mich in der Hinsicht nicht.
Fangen wir vorne an: "Dass wir so lang leben dürfen", ein von Wader vertontes Gedicht der 'Stimme Niedersachsens' Manfred Hausin, empfinde ich als den etwas bemüht wirkenden Versuch, ein Lied, das für einen Siebzigjährigen adäquat erscheinen soll, auf dem Silberling unterzubringen.
Tom Paxtons "Last Thing On My Mind" wurde von Wader als "Ich werd' es überstehen" mit einem deutschen Text versehen, der sicher keine auch nur annähernd wörtliche Übersetzung darstellt (und das auch gar nicht soll).
Der Titelsong "Nah dran" ist dann das erste komplett eigene Wader-Werk - mit feiner Ironie und einem 'liedergemacht-verlangsamten' Reggae reizt es zum Schmunzeln angesichts der Bemühungen des Protagonisten, die holde Weiblichkeit zu erobern. Er zitiert dabei die gesamte Liedermacherszene und nimmt sich selbst ganz herzerfrischend auf die Schippe. "Der Drache", ebenfalls von Wader komponiert und getextet weckt Kindheitserinnerungen und kommt musikalisch in bester Liedermachertradition daher. Eine schöne, sehr private und ein wenig traurig stimmende Nummer.
Im Stil eines Chansons würdigt Wader in "Boulevard St. Martin" den Widerstandskämpfer Peter Gingold, der in Frankreich in der Resistance aktiv war und 1945 nach Deutschland zurückkehrte, wo er in der KPD, die zeitweise auch Waders politische Heimat war, aktiv wurde.
Dem Chanson-Stil treu bleibt Wader in der nächsten Nummer "Die welken Blätter", seine Adaption der "Les feuilles mortes" von Joseph Kosma mit einem Text von Jaques Prevert, ein Lied über Liebende, die sich auseinandergelebt haben und auseinandergehen.
In "Mahlzeit" übt er die zeitgemäße und 'politisch korrekte' Kritik an der heutigen Nahrungsverarbeitungsindustrie mit ihrem enormem Einsatz an Energie. Ob nun die Nordseekrabben, die zum Auspulen um die halbe Welt geschifft und mit Konservierungschemie behandelt werden oder die argentinischen Rindersteaks, die in der Ökobilanz ganz kräftig negativ punkten. Auch das deutsche Schweineschnitzel basiert auf menschenfeindlich hergestelltem Sojaschrot, selbst der Espresso ist durch Kinderarbeit nicht unbelastet. Der Trinkwasserverbrauch und das Tropenholz werden angeprangert, aber auch die Unlösbarkeit dieses Dilemmas dargestellt, denn nach Hause gehen und nur Leitungswasser und 'nen Apfel zu sich zu nehmen ist auch nicht die Dauerlösung.
"Jeder Traum" ist seine Hommage an den letztes Jahr verstorbenen Franz Josef Degenhardt. Diesem Freund, Kollegen und Wegbegleiter hat er auch sein nächstes eigenes Lied "Alter Freund" gewidmet. "Seit Ewigkeiten" wiederum ist die nächste Umsetzung eines bekannten Songs ("To Everything There Is A Season - Turn, Turn, Turn" von Pete Seeger). "Was keiner wagt" von Konstantin Wecker und Lothar Zenetti erhält seine Berechtigung auf dieser Scheibe wohl durch die langjährige Zusammenarbeit mit Wecker.
Sein "Lied vom Tod" ist für mich eine der stärksten Nummern auf dieser CD – Wader bricht Tabus, indem er sehr offen heikle Themen anspricht, wie Demenz, Suizid, den er ersterer vorziehen würde und sehr detailliert beschreibt. Auch Organspende, Spätschäden durchs Rauchen und die Grabgestaltung hechelt er durch. Ganz besonders wichtig ist ihm aber auch, noch in den letzten Lebenssekunden in die NPD einzutreten. Warum? Hört selbst rein...
Wenn ich jetzt ein Stück zurücktrete und mir "Nah dran" mit etwas Distanz betrachte, bin ich noch immer hin- und hergerissen. Meine Anspieltipps sind "Nah dran", "Mahlzeit" und das oben schon hervorgehobene "Lied vom Tod", diese eigenen und neuen Nummern konnten mich wirklich überzeugen. Der Rest? Hmmmmmmm, kommt hier die Füllmasse, um dem Drängen der Plattenfirma Genüge zu tun? Oder war Wader vielleicht jedes einzelne Lied ein Anliegen? Schwer zu beurteilen und wahrscheinlich auch gar nicht relevant.
Ist "Nah dran" nun das von Norbert erhoffte Alterswerk? Warten wir mal auf den 75. oder gar 80. - eine Steigerung wäre ganz bestimmt noch möglich!
Tracklist |
01:Dass wir so lange leben dürfen
02:Ich werd' es überstehn (Last Thing On My Mind)
03:Nah dran
04:Der Drachen
05:Boulevard St. Martin
06:Die welken Blätter (Les Feuilles Mortes)
07:Mahlzeit
08:Jeder Traum
09:Alter Freund
10:Seit Ewigkeiten (To Everything There Is A Season - Turn, Turn, Turn)
11:Was keiner wagt
12:Lied vom Tod
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