Steven Wilson
The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)
The Raven That Refused To Sing Spielzeit: 54:43
Medium: CD
Label: kscope, 2013
Stil: Progressive Rock


Review vom 16.04.2013


Michael Knoppik
Steven Wilson scheint immer mehr Berühmtheit zu erlangen. Der Brite hatte 1987 die Band
No-Man gegründet, die auch gleich seine erste nennenswerte Gruppe darstellt. Im gleichen Jahr gründete er Porcupine Tree, das er aber als Soloprojekt gestartet hat. Erst in den 90er Jahren kommen weitere Musiker hinzu. Die Liste seiner Projekte geht noch weiter. Da gibt es Bass Communion, I.E.M. (Incredible Expanding Mindfuck), Continuum, Blackfield und Storm Corrosion (eine Zusammenarbeit mit Mikael Åkerfeldt von Opeth). Dies sind alles musikalisch teilweise sehr unterschiedlich ausgelegte Projekte.
Als ob dies alles nicht genug Zeit in Anspruch nehmen würde, hat Steven Wilson zahlreiche Remastered-Editionen älterer Alben neu abgemischt. Allen voran die Werke von King Crimson hat er mit ausgezeichnetem 5.1-Klang versehen. Von letzterer Band kommt auch der größte Einfluss in seinen Solowerken, die er seit 2009 zudem noch veröffentlicht. Bereits "Insurgentes" war eindeutig dem Genre Progressive Rock zuzuordnen. Das zweite Album, "Grace For Drowning", hat bei Erscheinung 2011 diese Zuordnung noch verstärkt und Wilsons Musik um Jazz Rock erweitert.
Mit "The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)" führt Wilson diesen Weg fort. Das Album schlug bereits in der Fachpresse ein wie eine Bombe. Zahlreiche Magazine zeigen den Meister seines Faches auf dem Titelbild. Selbst bei Spiegel Online wurde er schon interviewt. Doch damit nicht genug. Sein Album schoss am 15. März 2013 direkt von Null auf Drei in die deutschen Charts. Was? Progressive Rock auf Platz Drei in den Charts? Entweder muss da was nicht stimmen, oder auf dem Album befindet sich doch Mainstream-Rock. Ist dies wirklich so?
Garantiert nicht. Bereits "Luminol" schlägt mit vertracktem Bass-Riffing und chaotischen Synthesizer-Klängen zu. Nachdem das Schlagzeug einsetzt und die Rhythmus-Gitarre einige Akkorde spielt, soliert Theo Travis auf der Flöte, als gäbe es kein Morgen. Folgend stehen sich großflächige Keybordakkorde oder die bereits bekannten, chaotischen Synthesizer verschrobenen Gitarrenriffs gegenüber. Der prägnante Bass bleibt das stärkste Erkennungsmerkmal des Stückes. Überhaupt hat Steven Wilson mit Nick Beggs einen starken Musiker dabei, der von seinen Spielfertigkeiten sehr an Trey Gunn (King Crimson) erinnert. "Luminol" wird ca. ab der fünften Minute deutlich ruhiger. Die Gitarre soliert bluesig vor sich hin, während die Rhythmusgitarre auch sehr zart gegriffen wird. Theo Travis' Flöte ist weiterhin verspielt, aber um einiges sanfter. Es folgt ein Piano-Interludium und einige Gesangsharmonien, die man von Porcupine Tree bereits gewohnt ist. Mächtige Mellotron-Chöre über schleppenden Rhythmen setzen das Stück fort, ehe sich sphärische Synthies hinter hektisch gespieltem Klavier verbergen. Am Ende wird nach gewohnter Prog-Manier das Hauptthema in verschiedenen Variationen vorgetragen.
"Drive Home" würde als typische Ballade von Porcupine Tree zu Zeiten von Fear Of A Blank Planet durchgehen. Die Rhythmen sind deutlich einfacher gehalten. Wenn man wollte, könnte man an dieser Stelle Steven Wilsons Stimme kritisieren, die nicht gerade ein großes Klangspektrum zu bieten hat. Besonders nicht im Vergleich zu einem Peter Gabriel oder Peter Hammill. Dies ist vielleicht der einzige Schwachpunkt der Scheibe, den man vermutlich erst richtig bemerkt, wenn man sämtliche Wilson'sche Alben kennt. Die Zerlegungen, die Wilson bei ca. viereinhalb Minuten auf der akustischen Gitarre spielt, sorgen für ein spannendes Intermezzo in einem sonst eher zäh dahin fließendem Track.
"The Holy Drinker" setzt wieder einen hohen Spannungsbogen von den ersten Sekunden an. Vermutlich war "Drive Home" nur der Ruhepol. Hier lassen sich einige Synthiesoli finden, die vom im Jahr 2002 verstorbenen Peter Bardens (Ex-Camel) hätten stammen können. Vielleicht ein Nachruf seines Geistes? Auch Theo Travis legt sich am Saxophon wieder mächtig ins Zeug. Wilson legt mit seinem Gesang los, wobei er seiner Stimme hier mehr Ausdruck verleiht. "The Holy Drinker" hat aber auch wieder sämtliche rhythmischen Leckerbissen für den Proggy zu bieten. Zwar war "Luminol" als Opener bereits nicht sehr geradlinig, dennoch ist dort der rote Faden leichter rauszuhören als bei "The Holy Drinker". Letzteres droht auch ständig in atonale Klanggefilde abzudriften, bleibt aber doch noch eine ordentliche Spur auf Distanz zur Avantgarde.
Auch "The Pin Drop" erinnert vom Gesang her an Porcupine Tree-Balladen. Darüber werden jedoch einige Klangschichten gelegt, um das Stück zu verfremden. Wie im vorherigen Track wirkt Wilsons Stimme jedoch etwas verzweifelt. Zusammen mit der seltsamen Musik sorgt sie für eine schwermütige Stimmung, die durch rockige Akzente der E-Gitarre oder des Saxophons teilweise aufgebrochen werden kann. Alles andere als leichte Kost. Es ist gut vorstellbar, dass der Song erst als Ballade entstanden ist und dann immer weiter verfremdet wurde, bis er seine surreale Wirkung entfalten konnte.
"The Watchmaker" beginnt sehr behutsam, sanft und lyrisch. Die akustischen Gitarrenlinien dürften den Progressive Rock-Fan erster Stunde an "Ripples" aus dem A Trick Of The Tail-Album von Genesis erinnern, allerdings in einer Version mit Peter Gabriel, da die Flöte wieder mit von der Partie ist. Nach guten vier Minuten nimmt das Stück Fahrt auf. Über einem Teppich, bestehend aus akustischen Gitarren, Drums, Bass und Orgel/Mellotron soliert erst die Flöte und anschließend die E-Gitarre, unter der ein leicht aggressiver werdender Grundrhythmus herrscht. Einer der zahlreichen, interessanten Stimmungswechsel. Sämtliche Instrumente spielen nun nicht miteinander, sondern eher nebeneinander. Doch selbst wenn das Saxophon zum Schluss dieses flotteren Parts reinkracht, entsteht nie der Eindruck unüberschaubarer Kakophonie. Im Gegenteil, die scheinbar gegenläufigen Stimmen fügen sich zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Nach guten sechs Minuten folgen Klavierarpeggios, wiederum ziemlich an Genesis erinnernd. Es folgt noch ein nervöserer Part, diesmal dominiert von E-Piano/Synthies, Bass und Drums. The "Watchmaker" mündet letztlich in einer recht rockigen Klimax.
Das letzte Stück, zugleich Titelstück, ist eine feine, das Album ausklingende, melancholische Ballade, die richtige Sehnsuchtsgefühle erweckt. Ein wunderschöner Abschluss eines wunderschönen Albums, das weder zu schräg, noch zu sanft, noch zu langatmig, noch zu routiniert ist. Mit anderen Worten: Das Album ist spannend und wirkt zugleich erholsam. Dennoch ist es anspruchsvoll und erschreckend stark.
Während ich persönlich Steven Wilsons erstes Album als sehr gelungen empfand und froh war über die Abwechslung im Vergleich zu Porcupine Tree, so empfand ich das folgende "Grace For Drowning" als sehr gute, aber dennoch reine Routineleistung. "The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)" überrascht mich allerdings. Es haut mich um, es verlangt zigmal gehört zu werden und es lässt einen nicht los. Bestimmt eine der stärksten Scheiben des Jahrzehnts. Mal sehen, ob man das im Jahr 2020 auch noch behaupten kann. Ich denke schon.
Im Übrigen gibt es "The Raven..." auch als Limited Edition, inklusive 5.1 Mix. Entweder in der Form CD + DVD oder als Blu-ray-Ausgabe. Aber das ist man ja beides schon von Steven Wilson gewohnt.
Line-up:
Steven Wilson (vocals, mellotron, keyboards, guitars, bass guitar - #3)
Nick Beggs (bass guitar, chapman sticks - #3, backing vocals)
Guthrie Govan (lead guitar)
Adam Holzman (Fender Rhodes, Hammond organ, piano, minimoog)
Marco Minnemann (drums, percussion)
Theo Travis (flutes, saxophones, clarinet)
Jakko Jakszyk (additional vocals - #1,5)
Alan Parsons (haw-haw guitar - #3)
Tracklist
01:Luminol (12:10)
02:Drive Home (7:37)
03:The Holy Drinker (10:14)
04:The Pin Drop (5:03)
05:The Watchmaker (11:42)
06:The Raven That Refused To Sing (7:57)
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