Drückende, schwere Gitarrenwände eröffnen Wingers fünftes Studioalbum "Karma". Die harte Instrumentierung, der heftige Sound sowie der sirenenhafte Gesang von Mastermind und Namensgeber Kip Winger wollen somit gar nicht zum positiven Titel passen.
Diese Diskrepanz macht die ganze Geschichte aber richtig interessant. Denn es ist ja nicht nur der spirituelle Titel, der im Widerspruch zum harten Rock der Amerikaner steht, nein, im Grunde genommen ist diese musikalische Ausrichtung eine generelle Überraschung im Hause Winger - denn hat man Frühwerke wie den Klassiker "In The Heart Of The Young" (1990) im Ohr, dann wird man heuer von den bissigen Riffs ganz schön überrascht.
Denn es waren doch Winger, die in der Vergangenheit gern, neben den obligatorischen Poison, als Inbegriff des weichgespülten Achtziger-Metals galten und nicht nur von der Hartwurst-Fraktion gern belächelt wurden, sondern u.a. auch in der trashigen MTV-Serie "Beavis And Butt-Head" durch den Kakao gezogen wurden. Wer Winger mochte, galt halt als Weichei und Spießer - seine Vorliebe für die Mannen um den ehemaligen Alice Cooper -Bassisten behielt man besser für sich.
Wie dem auch sei: Ich habe Winger schon immer geliebt, und stehe dabei ganz besonders auf ihr Neunziger-Werk "Pull" (1993), das durch ausgefeiltes Songwriting und traditionelle Hard Rock-Klänge besticht. In eine ähnliche, wenn auch tendenziell heftigere bzw. modernere Kerbe schlagen die Mannen nun auch auf "Karma" (man höre nur mal die Stücke "Big World Away" bzw. "Come A Little Closer"), das dem 2006er Comeback-Scheibchen IV folgt.
Freunde härterer, druckvoller Rock-Gitarren sind im Jahre 2009 bei Winger somit an der richtigen Adresse, und auch ewige Skeptiker und Nörgler sollten den Herren endlich ihr Ohr schenken. Denn das was hier auf fast 43 Minuten abgeliefert wird, ist feinste Hard Rock-Kost. Dass Winger schon seit jeher für ausgefeiltes Songwriting stehen, ist kein Geheimnis, aber dass der Vierer so deutlich an Härte und Ausdruck gewonnen hat, wird den einen oder anderen möglicherweise überraschen. Die Band hat ihren Sound deutlich entschlackt, besticht trotz aller Härte aber natürlich noch immer durch großartige Melodiebögen in den Refrains.
"Karma" gibt dem Hörer somit ordentlich Druck. Diese starke Scheibe kommt, abgesehen vom lässig groovenden "Supernova" und dem anfangs verträumten "Always Within Me", erst gegen Ende so langsam zur Ruhe. Denn Riff-Monster wie der Opener "Deal With The Devil", "Stone Cold Killer" oder "Pull Me Under" werden von der gänsehäutigen Blues-Ballade "After All This Time" (Parallelen zu Gary Moore und besonders Cinderellas "Long Cold Winter" sind erkennbar) und dem grandios atmosphärischen "Witness" abgelöst. Letztere Nummer wäre vom Grundgedanken her auch bestens auf Kip Wingers Solo-Alben aufgehoben, würden plötzliche Gitarrenwände im Chorus sowie das minutenlange Lead-Gewitter am Schluss nicht doch deutlich in Richtung Hard Rock ausschlagen. Saitenmann Reb Beach zeigt auf den beiden letzten Songs noch mal ganz deutlich, welch meisterhafte Fähigkeiten in ihm stecken. Dieser Mann ist in meinen Augen einer der unterbewertetsten Rock-Gitarristen…
Fazit: Wer im Jahre 2009 also ein zeitgemäßes 'Achtziger-Album' braucht, der lässt ab sofort bitte "Karma" rotieren. Winger haben hier alles richtig gemacht, indem sie ihre Trademarks, allen voran der charakteristische Gesang des Frontmanns, zeitgemäßer (tendenziell härter, puristischer) verpacken. So einen Brecher von einem Album hätten ihnen wohl nicht viele zugetraut. Aber der Chef scheint mittlerweile zu wissen, dass er seine sonstigen Ambitionen auf Solopfaden ausleben muss, während unter dem Banner Winger der Rock regiert: »Ich malte mir eine peppige, rockende Mischung aus der ersten Winger-Scheibe und "Pull" aus «
, so der Sänger. Dieses Ziel wurde erreicht. Ich bin begeistert!
Anmerkung: Zusätzlich zum normalen Album erscheint eine limitierte DigiPack-Ausgabe von "Karma", die den Bonus-Track "First Ending" sowie Film-Material vom Aufnahmeprozess als spezielle Gimmicks enthält.
Line-up:
Kip Winger (lead vocals, bass guitar)
Rod Morgenstein (drums, backing vocals)
Reb Beach (lead & rhythm guitars, backing vocals)
John Roth (rhythm guitar, backing vocals)
Tracklist |
01:Deal With The Devil (3:00)
02:Stone Cold Killer (2:45)
03:Big World Away (3:51)
04:Come A Little Closer (2:50)
05:Pull Me Under (3:21)
06:Supernova (6:18)
07:Always Within Me (4:15)
08:Feeding Frenzy (3:01)
09:After All This Time (6:24)
10:Witness (7:00)
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