Agitation Free / Shibuya Nights - Live in Tokyo
Shibuya Nights Spielzeit: 74:01
Medium: CD
Label: Esotheric Recordings, 2011
Stil: Prog Rock

Review vom 10.11.2011


Norbert Neugebauer
Wer hätte das gedacht, dass sich dieses Urgestein der deutschen Kreativ-Rockmusik noch einmal auf der Bühne zurückmeldet? Agitation Free (gegründet 1967 in Berlin), unseren jüngeren RockTimes-Lesern bereits vom Kollegen Markus mit deren Nachzügler-Album River Of Return vorgestellt, haben nach fast 40 Jahren noch einmal ein Live-Album eingespielt. Und was für eins!
Dass deutsche Bands auch im Ausland, und da vor allem in Japan, nach wie vor einen hervorragenden Ruf haben, belegt der eigentliche Anlass zu dieser Produktion. In Tokio gibt es nicht nur ein Wachsfigurenmuseum mit umfangreicher Musiker-Schau, das hat sogar eine eigene Abteilung für 'Progressive Rock'. Und da steht seit Jahren bereits das Double von Agitation Free-Gitarrist Lutz Ulbrich (der LüüL , dessen neues Album Tourkoller ich erst kürzlich vorgestellt habe), dem 2007 das Abbild von Keyboarder-Kollegen Michael Hoenig hinzugefügt wurde. Anlass für die Band, die letzte Besetzung von 1974 zusammenzutrommeln und drei ausverkaufte Konzerte in Nippons Millionenmetropole zu geben. Der Mehrspur-Recorder lief mit, als das Berliner Quintett in Topform die alte Agitation Free-Magie noch einmal freisetzte. "Shibuya Nights" ist aber nicht nur ein Nostalgie-Projekt mit musikalischem Rückblick, das je fünf Tracks vom Album "Malesch" und von "2nd", dazu "Nomads" und "Das Kleine Uhrwerk" von "River Of Return" enthält. Drei neue Kompositionen zeigen, dass sich die Band noch immer weiterentwickelt und über Perspektiven-Potential verfügt.
Michael Hoenig hat aus den Mitschnitten der drei Abende das neue Album zusammengemixt, wobei die Tracklist beibehalten wurde. Die oft nur kurzen Stücke gehen teilweise in einander über, dazu gibt es Einspielungen mit Umweltgeräuschen und Soundcollagen. Ob die bereits bei den Konzerten über die PA zu hören waren oder nachträglich im Studio gesampelt wurden, ist für mich nicht erkennbar. Das Ganze ergibt einen instrumentalen Audio-Trip durch Zeit und Raum, der auch in die nahöstlichen Gefilde führt, aus der die Band bei ihren Touren hörbar Einflüsse aufgesogen hat. "Shibuya Nights" ist ein über 70-minütiges Roadmovie für das Kopfkino in bester Soundqualität.
Im ersten Song, der mit einer Ansage auf einem ausländischen Flughafen und Flugzeuggeräuschen beginnt, schwirren hypnotisch die Gitarren und der Synthesizer und vermitteln das angeturnte Feeling früherer heißer Nächte in irgendwelchen Rockschuppen, bei denen die Bands frei improvisierten und mit ihren Fans nicht nur auf einen kollektiven Klangtrip gingen. "Sahara City" wird zwar orientalisch eröffnet, dreht dann aber genauso spacig ab. Elektronisches Klanggezwitscher leitet zu "In The Silence …" über, das zwar gemächlicher daherkommt, aber einen bedrohlichen Unterton hat. Ende von Teil I, der mit Applaus abgetrennt wird.
Der Titeltrack rumpelt mit wuchtiger Percussion sperrig aus den Boxen, knarzt und knirscht, dazu dröhnt im Hintergrund der Synthesizer; kurzes Verschnaufen - dann explodiert "First Communication". Das Stück selbst ist eine feine, anfangs langsame Jam-Nummer mit göttlicher Gitarrenarbeit, die sich in ein furioses Finale steigert und in das Drum-Intermezzo "Dialogue & Random" mündet. Daraus wird das 'kosmische' "Ala Tul", geprägt von den sich aufschaukelnden Tastensounds.
Ein erneuter Urknall läutet "Laila" ein, über sechs Minuten feinster 'Krautrock' (welcher Idiot hat das bloß mit Sauer-'kraut' in Verbindung gebracht?!). Wuchtige Trommeln geben "Nomads" die Strukturen - hier muss der Lautstärkeregler noch mal deutlich nach rechts! "A Quiet Walk" mit Wassergeplätscher führt wieder durch seltsame Soundgebilde. Das "Uhrwerk" tickt akustisch exotisch mit den zwei Ukulelen und Hawaii-Gitarre. Die Nummer klingt zwar ganz anders, passt aber wunderbar in das sonstige Getöse.
Der Rest ist wieder feinster deutscher Prog Rock von anno dazumal, wie wir ihn liebten, im Gewand von heute: verschlungene Melodieornamente, dramatische Breaks, Verschwurbeltes und Vertracktes, endlose Dynamiksteigerungen, elektronische Gewitter, sphärische Sounds, kosmische Gefühle … Ein dicker Tipp, nicht nur für die 'Krautrock-Fraktion'!
Die alten Fans wird es sowieso freuen und die, die die Band erst durch dieses Album kennenlernen, ebenso: Agitation Free wollen 2012 auf Tour gehen!
Das einzige Negative an dieser Neuvorstellung ist, dass wir nur ein dürftiges Promoexemplar ohne Cover oder (falls vorhanden) Booklet, dafür mit fehlerhafter Tracklist, erhalten haben. Das schmälert den überaus positiven Eindruck zwar nur marginal, aber immerhin.
Line-up:
Michael Günther (bass)
Michael Hoenig (keyboards and synths)
Gustl Lütjens (guitars, acoustic guitars)
Burghard Rausch (drums, percussion)
Lutz Graf-Ulbrich (guitars, acoustic guitars, ukelele)

Guest musician:
Issey Ogata (ukelele)
Tracklist
01:You Play For Us Today (6:12)
02:Sahara City (2:48)
03:In The Silence Of The Morning Sunrise (6:22)
04:Shibuya Nights (6:15)
05:First Communication (6:25)
06:Dialogue & Random (1:22)
07:Ala Tul (6:15)
08:Laila (7:38)
09:Nomads (6:47)
10:A Quiet Walk (6:27)
11:Das Kleine Uhrwerk (4:48)
12:Malesch (5:42)
13:Drifting (3:54)
14:Rücksturz (2:57)
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