Joe Boyd
White Bicycles - Musik in den 60er Jahren
White Bicycles Text: Alan Byrne
Übersetzung: Wolfgang Müller
348 Seiten, gebunden, Hardcover
Einige s/w Fotos
Medium: Buch
Antje Kunstmann Verlag, 2007
ISBN: 978-3-88897-491-5
EUR 24,90

Review vom 02.04.2008


Grit-Marina Müller
Bereits im Dezember 2007 von Jürgen besprochen, hat "White Bicycles" auch Grit so begeistert, dass wir euch auch ihre Meinung zum Buch nicht vorenthalten wollen.
Gewidmet hat Joe Boyd seine faszinierend fesselnden Lebenserinnerungen an die wildromantischste, farbenprächtigste, bewusstseinserweiternste aller Revolutionen - der sechziger Jahre und ihrer Musik - seiner Großmutter Mary Boxall Boyd, einer anerkannten Konzertpianistin, die in Wien unter namhaften Größen studierte und ihnen im Vorkriegs-Berlin assistierte. In Bewunderung spricht er von ihr, der Europäerin, wahren Viktorianerin, der einzig musikalischen Seelenverwandten in der Familie. Denn eines hatte sie ihm beigebracht, das für ihn lebensbedeutend sein würde - die Fähigkeit des Zuhörens.
1960 schnappte sich der 18-jährige Boyd ein Telefonbuch, rief die seit den Vierzigern vergessen geglaubte Blueslegende Lonnie Johnson an und verpflichtete ihn kurzerhand zu einem Auftritt in Princeton. Vom Erfolg des kleinen Gigs im Wohnzimmer eines Nachbarn beflügelt, unternahm Boyd einen zweiten Versuch und buchte, wieder per Telefon, den ebenfalls längst vom Geschehen zurückgezogen lebenden Country-Blues-Star Sleepy John Estes für einen Abend in Harvard.
Das geplante Konzert fiel tags zuvor einer spontan organisierten Ehrenparty für Estes zum Opfer. 'Die Party des Jahres' wurde rein finanziell zwar zu einem Verlustgeschäft, war aber inklusive Estes-Auftritt ein Publikumsvolltreffer auf ganzer Linie. So märchenhaft konnte die Karriere eines bedeutenden Musikproduzenten wohl nur im Amerika der frühen Sechziger Jahre beginnen.
Boyds Vorliebe (dank des Geschenks einer Plattensammlung seiner Großmutter) und die seiner Freunde für die Blues- und Jazzstars der 30er und 40er stieß dennoch, inmitten der um sich greifenden, florierenden Folkbewegung auf vergleichsweise wenig Interesse und fruchtbaren Boden. Der junge Joe andererseits betrachtete die Folkies anfangs eher skeptisch und distanziert. Bekehrt hat ihn dann aber - wie soll's anders sein - der Meister höchst selbst in einem denkwürdigen Augenblick, als er eines Abends auf einer Szeneparty in einem Hinterzimmer "A Hard Rain's Gonna Fall" zum Besten gibt und jene allzu typische, folgenschwere Reaktion auslöst: »Ich sackte auf dem Boden zusammen, als hätte mich ein Knüppelhieb getroffen«.
Wie viele dieser Hiebe mag Dylan wohl im Laufe seines Lebens verteilt haben?
Kenntnisreich, detailliert, spannend und unterhaltsam, veranschaulicht Joe Boyd in "White Bicycles" zeithistorische Zusammenhänge und Entwicklungen eines einzigartigen, unvergleichlichen Jahrzehnts Musikgeschichte. Boyds autobiografische Reise führt den Transatlantiker von der amerikanischen Ostküste aus mehrfach nach Europa, vorrangig England, zurück nach New York und schließlich an die Westküste Kaliforniens, wo er als Film- und Soundtrackproduzent für Warner Bros. arbeitete. Sein privilegierter Aktionsradius versetzt den exzellenten Narrator in die Lage, Brennpunkte jeglichen Geschehens als Zeitzeuge immer aus der Perspektive der ersten Reihe dokumentieren, kommentieren und bewerten zu können.
Früh trifft der junge Harvard-Absolvent auf seine Weg begleitenden Mentoren George Wein und Paul Rothchild. Wein, lokale Größe in der Jazzwelt, verschafft ihm zunächst die Möglichkeit, in London sein ehrgeiziges Vorhaben einer Produzentenlaufbahn mit der Organisation eines Blues- und Jazzfestivals auf den Weg zu bringen.
In jenen Anfangstagen beobachtet Boyd das schwindende Interesse an traditionell orientiertem Blues und Jazz in den Folk- und Rockinfizierten Köpfen Amerikas und die zeitgleiche Begeisterung junger europäischer, insbesondere englischer, Fans für John Lee Hooker, Muddy Waters, Duke Ellington, Miles Davis oder Charlie Parker. Sie alle lernte er kennen, tourte mit ihnen per English Blues & Gospel Caravan durch Europa, rannte als 'Shuttle-Diplomat' durch Hotelflure, um zu vermitteln, wenn Charaktere, Starrköpfe und Egozentriker genannter Größenordnungen aufeinander stießen. Die Shows wurden allesamt Riesenerfolge. Dann - aus dem Hinterzimmer quasi wie einst Dylan - tauchte Chuck Berry auf der Bildfläche auf. Der schwarze Teufel verwandelte Blues in Rhythm and Duckwalk und heraus kam Rock'n'Roll. Eine ganze Generation »weißer, halbwüchsiger, ekstatisch kreischender Mädchen« beförderte diesen unumkehrbaren Siegeszug über die Kontinente. Der markerschütternde, amerikanisch juvenile Aufschrei hallte in London, Amsterdam und München wider. Nach einem triumphalen Jazzfestival, das Boyd letztmalig im Juli '65 in Europa managte und begleitete, hält er endgültig fest: »Rockmusik räumte den Jazz aus dem Weg«. Blues seinerseits verkam zum Klischee und unterhielt in seiner Heimat lediglich noch ein Minderheitspublikum der weißen amerikanischen Mittelschicht.
Folk, im Blues und Country verwurzelt, hatte sich unterdessen dank Dylan, Baez & Co. und mit Hilfe der jährlich stattfindenden Newport-Festivals fest im Geist des jungen Amerika etabliert. Die '65er Neuauflage dieses renommierten Ereignisses sollte sich in jenem Sommer der Nachwelt als Dimensionen sprengender Wendepunkt von historisch einmaliger Tragweite ins Gedächtnis brennen: Bob Dylan setzte seine Akustik-Gitarre und die bis dato eingeschworene, auf Heerscharen angewachsene Gefolgschaft gleichermaßen unter Strom, mit maßgeblicher Unterstützung! - Kein Geringerer als Joe Boyd persönlich, drehte mit an den Lautstärkereglern und auf gleichsam unvorhersehbar epochale Weise am sprichwörtlichen Rad der Geschichte. Spannungsgeladen gibt er die hochgradig konspirativen Details der konzertierten Aktion preis:
»Keiner sagte ein Wort. Wir waren uns der Bedeutung des Augenblicks bewusst. Ich gab Paul (Rothchild) einen rosafarbenen Leuchtstift, mit dem er jede Einstellung der Kanalpegel und der Equalizer über den Fadern markierte. Dylans Einstellungen markierte er mit einer Tinte, die man auch im Dunkeln sehen konnte. Ich zeichnete mit dem rosaroten Leuchtstift die Position der Verstärker und Mikrofone auf dem Boden auf und markierte die Einstellungen der Regler. Wir hatten keinen Hunger, so aufgepumpt waren wir mit Adrenalin. Ich ging von Verstärker zu Verstärker und kontrollierte die rosaroten Markierungen. Als die Musiker so weit waren, blinkte ich mit meiner Taschenlampe einmal auf. Die Ansage, aufflammende Scheinwerfer, und dann dröhnte "Maggie's Farm" in die Nacht«.

Die zum Politikum gewordene Elektrifizierung der Dylan'schen Weltauffassung zaubert dem damaligen Mittäter ein verstecktes, wehmütiges Lächeln ins Unschuldsgesicht und er rechtfertigt: »Für heutige Verhältnisse war die Lautstärke nicht sonderlich groß, aber 1965 war es wahrscheinlich das Lauteste, was irgendwer im Publikum jemals gehört hatte. Eine Schockwelle der Verblüffung schwappte über die Zuschauer. Nach dem Song erhob sich ein Jubel, unter den sich viele andere Geräusche mischten. Sicher gab es auch einige Buhrufe, aber sie waren nicht in der Mehrzahl«.
'Nebenbei' entdeckte, förderte und setzte Boyd gegen den massiven Widerstand des altgediegenen Folkrates, die Starterlaubnis seiner bluesrockenden 'Steuerberaterkanzlei' Butterfield & Bloomfield durch. Der Regen entschied letztlich anders. Bloomfield aber verstärkte Dylans Band bei deren Auftritt, der - entgegen anders lautenden hübsch ausgeschmückten Geschichten - völlig reibungslos und ohne Zwischenfälle ablief:
»Seeger, Äxte, Kabel... wie das bei Legenden so geht, irgendwie sind da ein paar Sachen durcheinander geraten «. Und - einer der Grundsteine des Woodstock-Mythos wurde bereits in Newport gelegt, wie Boyd zum Auftritt von Mimi und Dick Farina offenbart:
»Die Bilder, die in den folgenden Jahren zu Rockfestival-Klischees werden sollten - junge Mädchen in dünnen, vom Regen durchsichtigen Tops; Matsch verschmierte ekstatisch grinsende Gesichter - hatten an jenem Nachmittag während des Sets der Farinas einen ihrer ersten Auftritte. Wenn sich spätere Ereignisse nicht so lebendig in das Gedächtnis von Journalisten und Publikum eingegraben hätten, wären Dicks und Mimis Konzert als das herausragende Ereignis von Newport 1965 haften geblieben«.
1966 vollzog sich Weltveränderung im Wochenrhythmus und ihre physikalische Einheit sollte fortan in Volt und Ampere gemessen werden.
Boyd: »Konzepte wie 'Folkrock' kamen einem verschroben und sehr weit weg vor«. Mit interkontinentaler Unterstützung wurde der Fachwelt und dem Publikum elektrisierender Blues Rock verabreicht: Jimi Hendrix wurde zunächst nicht in New York, aber als Sensation in England gefeiert, während Cream auf die gleiche glorreiche Weise Amerika für sich vereinnahmten und in London eher an Bedeutungslosigkeit grenzende Resonanz erfuhren, dank Jimi. - Das Phänomen übrigens, wie es Eric Clapton in seiner kürzlich erschienenen Biografie auch schon beschreibt.
Wieder einmal bewies Doktor Joe Boyd, der inzwischen für Elektra arbeitete, wie instinktiv und treffsicher er das Stethoskop direkt am Puls der Zeit anzusetzen vermochte, als er mit seinem Kumpel und Szeneguru John Hopkins 1967 in London das UFO, den heißesten Schmelztiegel der Subkultur, zum Leben erweckte. Mit ihm hoben Außerirdische wie Pink Floyd, Soft Machine, Arthur Brown, The Move, The Pretty Things und Tomorrow ab.
Die Woge der Aufmerksamkeit und Popularität, die innerhalb kürzester Zeit über das unbekannte Flugobjekt hereinbrach, sieht Boyd als Teil eines 'historischen Musters':
»Egal wie rein und leidenschaftlich die Intention auch sein mag, die unausweichliche Folge der meisten künstlerischen oder kulturellen Revolutionen ist die, dass sie den Hunger der Öffentlichkeit nach Nervenkitzel befriedigt. Was London im Frühjahr 1967 erlebte, war mehr als die Billigung eines neuen Musikstils, es war ein massenhaftes Eintauchen in die Subkultur, die dieser Musik zu ihrem Aufstieg verhalf. Woche um Woche strömten bei uns die Leute die Treppe hinunter auf der Suche nach einer übersinnlichen Erfahrung. Und oft fanden sie die auch - dank es chemischen Arsenals, das unser Ordnungspersonal bereithielt (auf eigene Kappe natürlich, der Club hatte nichts damit zu tun). Wegen der Drogen war es bei uns mehr als eine 'Ich-steck-nur-mal-eben-einen-Zeh-ins-Wasser'-Erfahrung. Im UFO packte dich das psychedelisch grinsende Drogenkrokodil an den Knöcheln, zog dich nach unten und leckte dich von Kopf bis Fuß ab. Derartige Erfahrungen begannen die Gesellschaft zu verändern«.
Doch der zitierte Nervenkitzel wurde bis aufs Äußerste ausgereizt, gehypet bis zum Overkill und magnetisierte in der Folge ungewollt Massen von Touristen und Freizeitrevolutionären. Pressetaugliche Zwischenfälle waren vorprogrammiert und ergänzend skandalträchtig natürlich inszeniert worden. Die Ordnungsbehörden sahen sich gezwungen, dem unüberschaubaren, unkalkulierbaren Treiben ein Ende zu setzen und sorgten schlussendlich dafür, dass das UFO wieder dorthin verschwinden musste, wo auch immer es hergekommen war. Die weißlackierten Fahrräder aus Boyds Buchtitel waren in Amsterdam längst geklaut und umgespritzt worden. Die in Kaftan und Dashiki gewandete Phalanx der Gegenkultur, lag stoned und kraftlos am Boden der unausweichlichen Tatsachen:
»Sie glaubten an die sozialen und politischen Ziele der Bewegung, waren aber nicht gewillt, zu deren Erreichung in vorderster Linie Schützengräben auszuheben«. - stellt Boyd fest und fragt an anderer Stelle weiter: »Ist das eins der Vermächtnisse der Sechziger? Dass nach dem Aufreißen der Türen zu einer Welt, die vorher nur an den Rändern der Gesellschaft bekannt war, die Pioniere weiterziehen und die Massen zurücklassen, damit diese die Drogen den Myriaden von Kräften hinzufügen, die unsere Gesellschaft in Chaos und Mittelmaß treiben«?
Nach der Schließung des UFO begann für Joe Boyd ein neuer Lebensabschnitt, der nun erst die eigentliche Verwirklichung seines Traums in der Produzententätigkeit für heute unumstrittene Größen der englischen Folkmusic - Fairport Convention, Nick Drake und The Incredible Stringband - bedeutete. Einfühlsam beschreibt er die sensiblen Persönlichkeiten und Wesenszüge seiner Künstler und gewissermaßen Schützlinge, deren Erfolge er nicht ohne Stolz auf dem Konto seiner Firma Witchseason Productions verbuchen konnte, nachdem ihm in der Vergangenheit Gelegenheiten mit so glanzvollen Namen wie Eric Clapton oder Pink Floyd durch die Lappen gegangen und buchstäblich vor der Nase weggeschnappt worden waren. Hintergründig, aufschlussreich serviert little Joe auch in diesem Zusammenhang interessanteste Informationen über das Netzwerk der Musikindustrie der 60er und ihrer großen Schachfiguren wie beispielsweise Mo Austin/Warner, Malcom X/Decca oder Chris Blackwell/Island Records. Denn schon bald sollte er als kleiner Fisch mit Witchseason zufällig an der Freundlichsten dieser drei Angeln hängen.
Einen weiteren sachlichen und fachlichen Glanzpunkt dieses überaus empfehlenswerten, fantastischen Buches bilden die essentiellen Ausführungen Joe Boyds zu Aspekten der Studioarbeit, Aufnahmetechnik und Produktionskriterien in den sechziger Jahren. Unumgänglich wie sich die sprunghafte Entwicklung der technischen Möglichkeiten auch darstellen mag, erfährt sie eine erwartungsgemäß kritische Beurteilung durch den Autor. Dessen Haltung stützt die vielfach und allseits geäußerten Bedenken gegenüber einer totalen Digitalisierung und dem somit einhergehend befürchteten Authentizitätsverlust von Musik. Boyd kennzeichnet die gravierenden Unterschiede zwischen damaliger und heute üblicher Arbeitsweise anhand der Arbeitsmittel und der speziellen technischen Instrumentarien. Er vergleicht:
»Theoretisch eröffnen Computer Musikern und Produzenten eine endlose Palette an Klangmöglichkeiten. Andererseits sind sich moderne Digitalaufnahmen in ihrer Einförmigkeit weit ähnlicher, als ältere Analogstücke es waren.«,.erklärt weiter: »Heute wird die meiste Musik vom Künstler produziert, während der Tontechniker daneben sitzt. Sie gelangt ohne Umweg auf eine Festplatte, anstatt in der Luft widerzuhallen und von einem Mikrofon aufgefangen zu werden. Folglich ist oft das eigentliche 'Studio' zu einem bescheidenen Raum geschrumpft, in dem nur noch Sänger oder ein einzelner Instrumentalist Platz finden.« und schlußfolgert: »Die ideale Akustik heute ist eine tote: Digitaler Hall kann angeblich jede Atmosphäre vom Madison Square Garden bis zum eigenen Badezimmer simulieren. Auf der Suche nach dem perfekten Stück wird jede Komponente separat hinzugefügt, so dass Fehler leicht zu korrigieren sind. Die starren Rhythmen werden von einer Maschine erzeugt. In den Sechzigern haben Musiker noch einen Großteil jedes Stücks aufgenommen, indem sie zusammen zur gleichen Zeit im gleichen Raum gespielt und damit zumindest etwas vom Kitzel eines Live-Auftritts bewahrt haben«.

Den vermeintlich gewaltigen technischen Fortschritt durch die rasante Entwicklung in der Tonspur-Vervielfachung, sieht Boyd nicht ohne negative Konsequenzen:
»Von den vier Spuren mit denen ich angefangen habe, führte die Entwicklung über acht zu sechzehn Spuren, was die Breite des Tonbandes bei jedem Sprung verdoppelte. Kurz bevor ich nach Kalifornien ging, fand irgendein Schlaumeier heraus, wie man vierundzwanzig Spuren auf Zwei-Zoll-Breite des Bandes zusammenquetschte, die vorher Platz für sechzehn Spuren bot. Die Reduzierung der Spurbreite verschlechterte hörbar die Klangqualität. Einige wenige junge Tontechniker stellen heute fest, wie hervorragend der Klang von Sechzehnspur-Aufnahmen auf Zwei-Zoll-Bändern ist. Den besten Klang erreicht man natürlich mit reinen Stereoaufnahmen ohne Mischung, ohne Overdubs - und ohne digitale Bearbeitung. Der Hörer wird vielleicht nicht wissen, warum er etwas mag, aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, dass ihm ein Album mit 'gespielter', sauber aufgezeichneter Musik besser gefällt, als wenn man die gleiche Musik im modernen High-Tech-Overdub-Verfahren aufgenommen hätte«.
Sicher waren es nicht nur die beträchtlichen, massiven technologischen Umwälzungen, die das Ende einer so wundervollen, bald unvorstellbare 50 Jahre zurückliegenden Ära ankündigten. Die kurzen, intensiven Lebensverläufe von Nick Drake, Sandy Denny und auch Jimi Hendrix, von Joe Boyd in ausführlicher, besonderer Weise geschildert, stehen synonym für das Lebensgefühl jener Zeit. Es war vorwärts strebend, sinnweisend, von künstlerischer Liberalität und Innovation, konnte aber eben auch widersprüchlich, zerstörerisch und von tragischer Endgültigkeit sein. Das Lebenswerk all dieser Künstler - ihre Musik - ist von eindrucksvoller, fühlbarer Integrität, wie es sie heute nicht mehr gibt.
Entwaffnend schlüssig und exakt erklärt Boyd das Ineinandergreifen gesellschaftspolitischer und wirtschaftlicher Faktoren mit ihrer unmittelbaren Wirkung auf die soziokulturelle Entwicklung im Spiegelbild der Entstehung von Musik in den 60ern:
»Die Atmosphäre in der die Musik damals blühte, hatte viel mit den wirtschaftlichen Verhältnissen zu tun. Es war eine Zeit nie dagewesenen Wohlstands. Wahrscheinlich sind die Menschen heute wohlhabender, allerdings haben die meisten das Gefühl, dass sie nicht genug Geld haben. Und Zeit steht noch höher im Kurs. Die Vorhersage, dass unser größtes Dilemma im neuen Jahrtausend sein würde, wie wir die dank des Computers endlosen Stunden Freizeit nutzen könnten, hat sich als der unerfreulichste Witz der Futurologen herausgestellt. In den Sechzigern hatten wir beides im Überfluss, Geld und Zeit. Heute muss der urbane Mensch fieberhaft sein ökonomisches Potenzial maximieren, nur um eine kleine Wohnung unterhalten zu können. Die Wirtschaftslage in den Sechzigern ließ uns jede Menge lange Leine - um Reisen zu machen, Drogen zu nehmen, Songs zu schreiben und das Universum neu zu erfinden. Es herrschte das Gefühl vor, dass nichts endgültig war, dass es jede Selbstverständlichkeit in Frage zu stellen galt. Regelmäßig knöpften sich die Sanftmütigen die Mächtigen vor und gewannen auch noch oft - oder schafften wenigstens ein Unentschieden. Die Demonstranten heute ähneln mehr Bauern vor den Toren des Burgherrn als den wildentschlossenen, geeinten Menschenmengen, bei denen ich in den Sechzigern mitmarschierte. Unser Selbstbewußtsein entstand aus dem Gefühl, dass große Teile der Bevölkerung - und der Medien - uns unterstützten, und aus dem, was wir für die unerbittliche Kraft unserer Musik und unserer Überzeugungen hielten. Die Umwelt- und Menschenrechtsbewegungen, die zumindest theoretische Gleichheit der Rassen und Geschlechter sind nur die Spitze eines riesigen Eisberges. Ideale, die noch immer Quelle unserer Hoffnung für die Zukunft sind, haben ihre Wurzeln in den Sechzigern.«
Die Fähigkeit zuzuhören - für Joe Boyd von so elementarer Bedeutung - ist eine Fähigkeit der Wahrnehmung. Eigenständiges Wahrnehmen und Reflektieren von Empfindungen, hervorgerufen durch Bewegungen, Handlungen, Vorgänge, auch die der Vergangenheit, ist heute so weit zurückgebildet wie nie zuvor. Unsere natürlichen Sinneswahrnehmungen verkümmern angesichts zahllos dargebotener verstopfter Kanäle technisierten Stumpfsinns. Boyd verdeutlicht das Bewusstsein seiner Generation im Zeitgefüge:
»Ein Teil unserer Stärke lag darin, dass wir uns unserer Verbindung zur Vergangenheit bewusst waren. Wir versuchten, den Schleier der Zeit zu zerreißen und zu begreifen, wie sie sich anfühlte, wie sie klang, aussah, schmeckte. Wir zogen unsere Inspiration aus unserem kulturellen Erbe und brachten sie zum Brennen. Die Wurzeln der digitalisierten und gesampelten Kultur von heute liegen in jenen Jahren ernsthafter Suche und Begeisterung...« und er charakterisiert die Absurdität der gegenwärtigen Situation eindringlich: »Heute kommt mir Geschichte wie eine postmoderne Collage vor. Wir sind umstellt von zweidimensionalen Darstellungen unseres Erbes. Über Amazon oder iPod Zugriff zu haben auf ganze CD-Boxen mit alten Bluessängern - oder, wenn wir schon dabei sind, Nick Drake - ist mit dem Gefühl des Entdeckens und der Verbundenheit, die wir erfahren haben, nicht zu vergleichen. Die bloße Existenz einer solchen Informationsflut kann dafür sorgen, dass es zu intensiven Augenblicken der Offenbarung gar nicht mehr kommt.«
"White Bicycles"ist ein unerhört geistvolles, zwingend lesenswertes Buch und Zeitdokument. Joe Boyd vermittelt und analysiert darin authentisch Fakten in der Dichte und Fülle eines einschlägigen Lexikons. Dessen nüchternen Informationsgehalt vermag der heute in London lebende gebürtige Bostoner mit stets bescheiden wirkender sachkundiger Brillanz, amüsant hintergründigem Humor und seiner sehr menschlichen, für die Musik leidenschaftlichen, kontemplativen Betrachtungsweise unschätzbar aufzuwerten.
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