Prog als Therapieform! Mal wieder dient ein Album dazu, die lavaheiß und ursuppig vor sich hin brodelnde kreative Energie einer Hand voll junger musikalischer Ausnahmekönner zu kanalisieren. Athem heißt dieser Prog-Nachwuchs aus New Jersey und bringt uns mit seinem Platten-Debüt so eine Art 'bewusstseinserweiternde' Audiopackung - "The Extended Mind" heißt das Werk; und es 'geht gudd bei', wie man im Saarland sagen könnte. Es haut rein.
Keine Ahnung, was Athem überhaupt 'sind' ... schlichte Schubladisierungsversuche scheitern. Mal klingen sie nach traditionalistischem, symphonischem Prog Rock mit psychedelischen Ausschweifungen, und mal nach frickelfreudigem, ziemlich brachialem Progressive Metal mit stark experimentellen Tendenzen. Mal klingen sie retro und mal psycho. Wenn es sich kreuzt, ist das schon außerordentlich abenteuerlich und garantiert kurzweilig.
Da gibt es mit "Fallen God" mal eine Mischung aus straightem und heavy Riff-betontem Prog Metal, unterbrochen von blümeligem Neo Prog und mit einem offensiv neo-barocken Finale mit graziös gedoppelten Solo-Melodien. Und mit "Merciless Eyes" ein zurückgenommenes, Psychedelic-getränktes Prog Rock-Stück mit bombastischem Power Metal-Schluss und einem krassen, explosiven Gesangs-Finale.
Der Ü-Ei-Effekt ist bei Athem immens und lauert (gefühlt) in jedem 7. Takt. Und Sänger Will Shaw hat daran maßgeblichen Anteil. Was der hier veranstaltet, das ist die heimliche Hochzeit von Genie und Wahnsinn. Von einer Sekunde zur nächsten überspringt der Mann ganze Oktaven und brilliert in dämonischsten Urzeit-Metal-Stimmlagen. Namen wie John Arch und Midnight lassen grüßen. So eine Retro-Prog Metal-Power habe ich wohl seit Manimal nicht mehr gehört! Gänsehaut.
Herrn Shaws genial-verrückte Stimmspielereien passen prima zum durch und durch unkonventionellen Genre-Abenteuer innerhalb der Songs. Es blümelt FloKis-mäßig los, bevor es heavy, episch und intensiv melodisch an Italo-Progger à la Pathosray erinnert. Eingeschobene Retro-Frickeleien auf erhöhtem Schwierigkeits- und Erlebnis-Level bringen Einflüsse von Alt- und Neo-Proggern von Genesis bis Spock's Beard aufs Tablett.
Songs wie das gut zwölfminütige "Enigmatic Reverie" - 'rätselhafte Träumerei' - tragen ihren Namen zu Recht. Hier trifft die Magie von The Lamb Lies Down On Broadway auf die atmosphärische Power des Michael Harris/ Ted Leonard-Projekts Thought Chamber. Beim noch ausschweifenderen "Lifting The Veil" beweisen Athem großes Gespür für vertrackte Genialitäten. Kopf- und Bauch-Progger mit viel Entdeckungslust werden tausendfach belohnt, wenn sie auf komplexe Taten von Bands wie Andromeda, Circus Maximus oder Ayreon stehen. Hier ist zwar der Anarcho-/ Psycho-Faktor noch eine Stufe ausgeprägter. Ins Ohr gehen Athem aber dennoch wie nix, keine Sorge!
Als Höhepunkte des Albums sehe ich zwei Stücke, wie sie gegensätzlicher kaum sein könnten. Einmal das urige Powerpaket "Prince Of Lies". Das ist pickepackevoll mit Speed und Bombast und Details und Wahnsinn, Parallelläufen rauf unter runter und zig kleinen Hooks dank atemloser Wechsel, während Will Shaw voller Wahnwitz seine Stimmbänder dehnt. Erinnert ein bisschen an Damian Wilson bei frühen Threshold-Aufnahmen, aber so abgedreht wie Mystic Force auf "Man Vs. Machine" (wer's kennt ...).
Das andere Highlight ist "Wake Up Screaming". Hier hat man sich atmosphärisch erst mal schwer an Yes orientiert, verlässt die sichere Basis aber auch gern mal zwecks atmosphärischer Druckmacherei oder abrupter Breaks für markante Alleingänge des Gesangskünstlers. Zwischendurch wird wahlweise vergnügt gefrickelt und wieder pausiert und Luft geholt, was wiederum etwas an Dream Theaters Retro-Ausflüge bei "Octavarium" erinnert. Ein großes Hallo, bei dem man sich schnell aufs Unerwartete gefasst macht.
Athems Erste ist ein äußerst unterhaltsamer Mix aus musikalischen Frage- und Ausrufezeichen. "The Extended Mind" ist ein lohnenswerter und ergiebiger Trip für progressive Spurensucher. Herausstechende individuelle Merkmale sind kaum auszumachen; dafür ist aber die ideenreiche Kombination von allerlei Herrlichkeiten aus dem Prog-Kosmos mit viel Pfiff und Talent sowie Mut zum Experiment außerordentlich hörenswert. Vielleicht ist auch diese Kombination schon wieder ein Alleinstellungsmerkmal an sich. Eine Bereicherung, absolut!
Line-up:
Will Shaw (vocals)
Shawn Baldissero (guitar)
Louis Vasile (guitar)
Mike Haas (bass guitar)
Alex Gonzales (drums & percussion)
Guest musician:
Keith Elliot (additional guitars & keyboards)
Tracklist |
01:Overture (1:35)
02:Fallen God (6:25)
03:Away (6:01)
04:Prince Of Lies (7:23)
05:Wake Up Screaming (7:32)
06:Enigmatic Reverie (12:28)
07:Merciless Eyes (4:58)
08:The Extended Mind (5:01)
09:Lifting The Veil (15:26)
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