Schneeball Records hatte ich ja bereits vor ein paar Wochen im Rahmen des Jazzkraut-Samplers kurz vorgestellt. Das Konzept des Labels war seiner Zeit um Jahrzehnte voraus. Es war das erste seiner Art in Deutschland, das komplett von Musikern organisiert und finanziert wurde und dies lange bevor sich das Wörtchen 'Independent' im hiesigen Sprachraum im Zusammenhang mit Rockmusik durchgesetzt hatte. Zu den Gründungsmitgliedern zählten die Musiker der Rockbands Embryo, Sparifankal, Missus Beastly und Ton Steine Scherben sowie der Münchner Sänger Julius Schittenhelm. Die Musiker organisierten und gestalteten alles selbst: Produktion, Cover, Herstellung und den Vertrieb, was in Zeiten ohne PC und Internet natürlich ungleich schwerer war, als heutzutage. Schneeball (in den ersten Jahren nannte man sich 'April') war im Prinzip mit einer Großfamilie vergleichbar und die Strukturen waren - mit all den damit verbundenen Schwierigkeiten - anarchistisch/syndikalistisch angelegt.
Die Bands, die bei Schneeball mitmach(t)en, entstamm(t)en dem links-alternativen Spektrum, das in den Siebzigern bunteste Blüten trieb. Es waren allesamt Musiker von einem Format, das für herkömmliche Labels durchaus interessant gewesen wäre. Man wollte sich aber aus guten Gründen und ganz bewusst aus dem Musikbusiness ausklinken. Der Boykott des kapitalistischen Systems, die völlige künstlerische Freiheit und vor allem 'das freie Wort' waren die wichtigsten Beweggründe der Aussteiger.
"Ein Komet ist ein schmutziger Schneeball" ist eine kompetente Werkschau von der Gründung als Musikkooperative April bis in die Neunziger Jahre. Sie erschien im Jahr 1997. Im Zug des eingangs erwähnten "Jazzkraut"-Samplers von Sireena kehrten die Schneeball-Bands wieder in den Fokus der Musikinteressierten zurück. Da eine Vielzahl der Originalscheiben in meinem Vinyl-Rack stehen, erwuchs der Wunsch, diesen wichtigen Bereich der deutschen Musikszene etwas stärker in das Bewusstsein der nachfolgenden Generationen zu rücken.
Das Album startet mit Ton Steine Scherben und damit sicherlich mit der bundesweit bekanntesten Formation des Schneeball-Labels. Sie waren wohl die wichtigste deutsche Agitprop-Band der siebziger Jahre. Ihre Songs begleiteten jede Demonstration und die Konzerte endeten oftmals in spontanen Hausbesetzungen. Böse Zungen behaupten, dass Grünen-Chefin Claudia Roth als ihre letzte Managerin, für den Bankrott der Band 1985 hauptverantwortlich war. Rio Reiser (alias Ralph Möbius) und R.P.S. Lanrue ( Ralph Peter Steitz) waren die Masterminds der Scherben. Hier sind sie mit zwei ihrer bekanntesten Songs vertreten: Mit dem modernen Arbeitersong "Allein machen sie dich ein" sowie "Keine Macht für Niemand" in einer prickelnden Live-Version aus der 1985er Abschiedstour.
Aufs engste mit den TSS war das Brühwarm Theater 'verbandelt': Sie gehörten ebenfalls zu der 'Fresenhagen Connection'. Rio und Lanrue waren die Songschreiber dieser schwulen Theatergruppe. Bekanntestes Mitglied dürfte der schillernde Hamburger Kiezkönig Corny Littmann sein, der es mit seinem Schmidt Theater später sogar zu einer Kultsendung im NDR brachte. Wer kennt nicht die "Schmidt Mitternachtshow"? "Ach müder Mann" ist vielleicht etwas zu 'tuntig' für einen Normalo, aber "Sie ham mir ein Gefühl geklaut" klingt original wie ein echter Scherben-Klassiker, und zwar wie ein richtig Guter!
Der Münchner Liedermacher Julius Schittenhelm gehört zu den Initiatoren Schneeballs und ist auch im hohen Alter von 82 Jahren im Unruhestand. Gespannt darf man auf seine Autobiografie "Ich bin kein Volk" warten, die in diesem Jahr erscheinen soll. "Die Bombe Adolar" war eine Reaktion auf die Nachrüstungsdebatte der frühen achtziger Jahre. Der atomare Wahnsinn wird hier karikaturhaft überzeichnet, während "Drei Orchideen" - sein wohl bekanntester Song - ins poetisch-surreale abdriftet.
Auch die Münchner Kollegen von Sparifankal waren bereits zu April-Zeiten ein Aktivposten der Ur-Schneebälle. Bekannt waren sie durch geradlinigen Rock mit bajuwarischen Texten. "De Großkopfadn" ist für einen Saarländer leider kaum verständlich, wobei der Titel ('Großkopfadn' bayr. für Bonzen, Wichtigtuer) viel versprechend ist. "Familienlem" (bayr. Familienleben) beginnt als simpler Countrysong, der sich in einen listigen Rock'n'Roll steigert. Leider haben sich Sparifankal 2005 endgültig aufgelöst.
Hammerfest hatte ich - glaube ich - 1980 beim Umsonst & Draußen Festival in Vlotho gesehen und war damals schwer beeindruckt gewesen. Auch von der ersten LP "Hier bei uns" (1978), die ich mir bei dieser Gelegenheit zulegte. Songs wie "Lichtung" und "Funkenflug" waren richtig epische Rocksongs. Wenn ich mich recht erinnere, ist der leider einzige Song Hammerfests auf dieser Compilation, "Schneller", damals in Vlotho aufgezeichnet worden: kurz-knackig und dem Zeitgeist - die NDW rollte gerade an - verpflichtet.
Nein - Checkpoint Charlie waren in den Achtzigern nichts für zart besaitete Schöngeister - wirklich nicht! Uwe von Trothas provozierend anzügliche Texte und der rüpelhafte Hard Rock schlugen so manchem auf den Magen und der Staatsmacht auf den Geduldsfaden. "Smogalarm" hätte auch auf CCs erster Langrille, der Rockoperette (oder wahlweise auch 'Umwelt-Dramolett') "Scheiße" von 1970 erscheinen können, stammt aber von der legendären "Die Durchsichtige" (1981), die aus durchsichtigem Vinyl bestand und mit einem ebenso durchsichtigen folienhaften Cover ausgestattet war. Der zweite Song auf dieser Schneeball-Compilation ist "Karl-Heinz A.", A wie Arsch. »Er fährt nicht mehr nach Thailand, weil er sein Girl in Sachsen fand« - Bananen machten es möglich. Wie gesagt: starker Tobak und nicht jedermanns Sache...
Besonders schön ist, dass zwei Songs der völlig zu Unrecht vergessenen Band "Nikel's Spuk" vorgestellt werden. Beim ersten Ton des Gesanges glaubt man sofort, die Stimme zu erkennen. Völlig klar, der hat doch "Guten Morgen" und den "Paul Panzer Blues" von Ton Steine Scherben gesungen: Nikel Pallat, besser bekannt als Paul Panzer. Bundesweite Berühmtheit erlangte der TSS'sche Manager und Saxophonist, als er 1971 in einer WDR-Talkshow quasi live und in Farbe den Tisch mit einer mitgebrachten Axt zerlegte. Nachdem er zuvor die Sendung als 'scheißliberal' und das Fernsehen allgemein als 'Unterdrückungsinstrument' gegen das man sich auflehnen müsse beschimpft hatte, meinte er danach erleichtert: »So, jetzt können wir weiter diskutieren.«
Nikel hatte sich 1981 DEN Songs des italienischen Liedermachers Lucio Dalla angenommen und ihnen wunderschöne deutsche Texte verpasst. Mit "Der siebte Engel" gelang Nikel ein erstklassiger, seelenvoller Rocksong mit packendem Text: »Leb doch Dein Leben - wart' nicht auf morgen!« Mit "Na, wie geht's" hatte er 1982 sogar einen kleinen Hit ihm Rahmen der Neuen Deutschen Welle. Für dieses Genre ist der Song sogar anspruchsvoll, allerdings wirken die synthetischen Drums und Bässe anachronistisch - dafür ist das Mini Moog-Solo im Mittelteil sensationell.
»Kann man diese Schallplatte kaufen? Ja!
Kann man diese Schallplatte essen wie einen Engländer? Gewiss nicht!
Kann man diese Schallplatte als Rad an mein Fahrrad montieren? Schon möglich!
Dann packen Sie sie mir bitte ein.«
Der experimentelle österreichische Poet Ernst Jandl, der im Jahr 2000 im Alter von 75 Jahren viel zu früh verstarb, lockert die erste Scheibe dieser Compilation fünfmal auf amüsante Weise auf.
Embryo eröffnet den Reigen auf der zweiten CD. Dieses Münchner Musikkollektiv besteht seit 1969 ohne Unterbrechungen, allerdings ist einzig der Multiinstrumentalist Christian Burchard noch von der Urbesetzung dabei. Erst im vergangenen Jahr brachte man mit "40" eine Doppel-CD heraus. Stilistisch wird Embryo zwar gerne im Krautrock verortet, was der musikalischen Breite der Band nicht gerecht wird. Man muss diese Mixtur verschiedenster Stilelemente zwangsläufig als Weltmusik bezeichnen
Das orientalisch angehauchte "Abdul Malek" (von der 1972er "We Keep On") lebt von Burchards Marimbaphon und Roman Bunkas - einem der wichtigsten ehemaligen Mitstreiter - Saz. "Marque's Song" entstammt den 89er Album "Turn Peace". Hier vereinen sich auf hörenswerte Weise indische und orientalische Einflüsse mit jazzigen Elementen. Roman und Christian 'duellieren' sich virtuos mit Oud und Vibraphon. Auch aus den Neunzigern ist mit "North Of The Chinese Wall" ein Werk vertreten. Diesmal hat man sich mit zentralasiatischen Musikformen auseinandergesetzt und experimentiert hier mit Kehlkopfgesang, Sheng und Erhu. Diese musikalischen Begegnungen mit Embryo sind ein großes Highlight dieses Samplers.
Eine der führenden Jazz Rock-Combos der siebziger Jahre, Missus Beastly aus Herford, ist mit zwei Songs aus ihren zwei wichtigen Phasen vertreten. "Patscha Menga Underground" zeigt den Flötisten/Saxofonisten Friedemann Josch in all seiner Virtuosität. während bei "Miles All Along The Watchtower" der 'neue' Chef der reformierten, zweiten Formation, Keyboarder Burkhard Schmidl, mit einem irren Fender Rhodes-Solo seine Fähigkeiten vorzuführen weiß.
Diese zweite Scheibe der "Ein Komet ist ein...."-Compilation ist die Spielwiese für Schneeballs Jazz-Rocker. Meine damaligen Lieblinge der Real Ax Band gehören dazu, wie die von mir kaum weniger verehrte Würzburger Formation Munju (verkürzt von 'Muntere Jungs').
Die Real Ax-Bajuwaren ließen sich überhaupt nicht von irgendwelchen Modeströmungen verunsichern, sondern setzten auf konservative Stilistik. "Pick Your Feet On The Ground" wie "I'm Checking My Problems Out" setzt ganz auf vokalen Jazz und mit der Ghanaerin Maria Archer hatte man da auch die genau richtige Protagonistin am Mikro stehen.
Munju präsentieren sich mit "Suchtgift Suchhund" und "Ixtuluh" in absoluter Hochform. Für viele waren sie die heimlichen Stars von Schneeball Records. Das traumhafte Zusammenspiel von Bassist Wolfgang Salomon und Saxophonist Jürgen Benz erstrahlt auch bei diesen beiden Songs wieder in den blendendsten Facetten. Wenn dann Ulli Grünwald das Grand Piano-Solo locker aus dem Handgelenk schüttelt, wird dem Hörer wahlweise warm ums Herz oder feucht in der Hose.
Abschließend seien hier noch die Dissidenten genannt... und man muss sie nennen! Sie waren 'Abtrünnige' - quasi Dissidenten - der Urformation Embryos, wobei man kaum nachvollziehen kann, warum man 'fahnenflüchtig' wurde. Zwischen 1982 und 1997 deckte man ebenso das Spektrum zwischen Orient und Okzident ab, wie das Original. Warum die Kollegen des Rolling Stone sie die 'Godfathers Of World-Beat' nannten, mag der geneigte Hörer bei "Mani" und "Turn On The Light" selbst nachvollziehen.
Fazit: Eine geradezu brillante Werkschau in die links-alternative Subkultur der siebziger, achtziger und frühen neunziger Jahre. Zum Überblick verschaffen geradezu ideal und danach? Auf die Suche nach den Vinyls machen!
Tracklist |
CD 1 - Melodie:
01:Ton Steine Scherben - Allein machen sie Dich ein (4:30)
02:Julius Schittenhelm - Die Bombe Adolar (3:18)
03:Ton Steine Scherben - Keine Macht für Niemand (4:06)
04:Sparifankal - de Großkopfadn (4:09)
05:Brühwarm - Ach, müder Mann (2:47)
06:Brühwarm - Sie ham mir ein Gefühl geklaut (5:55)
07:Ernst Jandl/Statt-Theater Fassungslos - Schallplatte I(0:08)
08:Checkpoint Charlie - Smogalarm (5:24)
09:Nikel's Spuk - Der siebte Engel (5:45)
10:Checkpoint Charlie - Karl-Heinz A. (3:19)
11:Julius Schittenhelm - Drei Orchideen (4:32)
12:Ernst Jandl/Statt-Theater Fassungslos - Schallplatte II (0:15)
13:Eugen de Ryck - Credit Card (2:42)
14:Nikel's Spuk - Na, wie geht's? (4:11)
15:Sparifankal - Familienlem' (2:35)
16:Hammerfest - Schneller (2:51)
17:Ernst Jandl/Statt-Theater Fassungslos - Straßenbau (4:32)
18:Checkpoint Charlie - Er fährt nicht mehr nach Thailand (3:30)
19:Amon Düül 2 - Lilac Lilies (5:39)
20:Ernst Jandl/Statt-Theater Fassungslos - Schallplatte III (0:42)
21:Yoon/Namchilak/Disse - Aidys (2:46)
22:Ernst Jandl - hod anareascht (1:08)
23:Ernst Jandl/Statt-Theater Fassungslos - Spruch mit kurzem 'o' (0:05)
|
CD 2 - Rhythmus:
01:Embryo - Abdul Malek (3:12)
02:Missus Beastly - Miles All Along The Watchtower (4:34)
03:Real Ax Band - Pick Your Feet On The Ground (2:56)
04:Missus Beastly - Patscha Menga Underground (3:46)
05:Real Ax Band - I'm Checking My Problems Out (4:08)
06:Munju - Suchtgift Suchhund (5:16)
07:Moira - Crazy Countdown (5:19)
08:Munju - Ixthulu (6:52)
09:Dissidenten - Mani (4:27)
10:Embryo - Marque's Song (5:55)
11:Dissidenten - Turn On Your Light (3:16)
12:Die Wand An - Tanzania (4:43)
13:Argile - Idjo (5:00)
14:Chris Karrer - Midân (4:37)
15:Yoon/Namchilak/Disse - Countdown (4:34)
16:Embryo - North Cinese Wall (4:30)
|
|
Externe Links:
|